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LAIRE/1376: Coronavirus - fatale Besserwisserei ... (SB)



Unter allen Staaten bewältigt bislang Südkorea die Coronaviruspandemie mit am besten. Dennoch wird es hierzulande nicht als Vorbild genommen, weil man offenbar glaubt, es besser zu wissen. Der Preis der westlichen Überheblichkeit: Ein starker Anstieg der Todeszahlen unter alten Menschen, die vorzeitig verstorben sind.

Die Regierung Südkoreas hatte nach Bekanntwerden des neuartigen Coronavirus unverzüglich gehandelt und sehr weitreichende Maßnahmen ergriffen. Dazu gehörten auch Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Aber nur für relativ kurze Zeit und längst nicht so streng wie beispielsweise in Italien. Inzwischen ist in Südkorea das öffentliche Leben lockerer als sogar in Schweden, das wegen seiner laxen Politik der Herdenimmunität mal kritisiert, mal gelobt wird. Dort sind bislang im Schnitt 343 von 100.000 Personen an Covid-19, der durch das Sars-CoV-2 genannte neuartige Coronavirus ausgelösten Lungenkrankheit gestorben, in Südkorea hingegen nur 5 von 100.000.

Bei der Interpretation solcher Zahlen sei insofern zu Vorsicht geraten, als daß sie nur einen momentanen Stand wiedergeben. Sie sind Schwankungen unterworfen, werden aber mit Verlauf der Pandemie zunehmend solider, da sich ein immer genauereres Bild abzeichnet. Die belastbarsten Zahlen erhält man allerdings erst, wenn die Pandemie vorbei ist.

Was den häufig gezogenen Vergleich der Todesfälle unter Beteiligung des neuartigen Coronavirus mit denen der Influenza im Jahr 2017/18 in Deutschland betrifft, so sei an dieser Stelle nur darauf verwiesen, daß die Zahl von 25.000 Grippetoten eine Schätzung des Robert-Koch-Instituts ist. Im Labor nachgewiesen waren für den besagten Zeitraum lediglich 1.674 influenza-bedingte Todesfälle, wie der Deutschlandfunk berichtete. [1]

Die chinesischen Behörden hatten am 31. Dezember 2019 erstmals die Weltgesundheitsorganisation (WHO) über den Ausbruch mysteriöser Lungenentzündungen in der Millionenstadt Wuhan verständigt. Bereits am 3. Januar 2020 verhängte Südkorea Einreisebestimmungen und Quarantänemaßnahmen für Flugreisende aus dieser Stadt. Am 19. Januar 2020 wurde bei einer Frau aus Wuhan nach ihrer Ankunft auf dem südkoreanischen Flughafen Incheon Fieber registriert. Die Frau kam auf eine Isolierstation. Am nächsten Tag wurde sie positiv auf Sars-CoV-2 getestet.

Zunächst stieg die Zahl der Infektionsfälle nur langsam an, bis sich am 19. Februar 2020 das Coronavirus in einer religiösen Gemeinschaft in der südkoreanischen Stadt Daegu explosionsartig ausbreitete und von dort aus schnell weitere Kreise zog. Bereits am 24. Februar 2020 wurden 883 Infektionen bestätigt. Zu der Zeit nahm Südkorea hinter China den weltweit zweiten Platz an bekannten Infektionsfällen ein.

Der Cluster in Daegu konnte eingedämmt werden, und auch in der Hauptstadt Seoul sowie im übrigen Land wurden die Infektionen weitgehend zurückgedrängt. Welche der Maßnahmen Südkoreas zu der bis heute geringen Infektionsrate und niedrigen Zahl von mit/durch Covid-19 Verstorbenen besonders erfolgreich waren, läßt sich kaum auseinanderdividieren. Es wurden Massentests durchgeführt und Infektionsketten strikt nachverfolgt. Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit sind nicht verpflichtend, werden aber von den meisten sowieso schon getragen. Die Menschen wurden aufgefordert, soziale Kontakte zu vermeiden, Ausgangssperren wurden jedoch nicht verhängt. Ähnlich wie in Deutschland sind Massenveranstaltungen bis heute verboten, Schulen und Hochschulen bleiben geschlossen. Statt dessen wird Online-Unterricht durchgeführt.

Privatschulen, Sportstätten, Kirchen und Nachtclubs war dringend nahegelegt worden, ihren Betrieb einzustellen - eine Empfehlung, die bereits wieder aufgehoben wurde. Im Unterschied zu Deutschland wurde auch der Betrieb von Cafés und Restaurants seit Mitte April wieder erlaubt. Zudem darf gereist werden, und das Arbeitsleben entspricht nahezu dem der Prä-Pandemie-Zeit. Alles in allem war es kaum zu Einschränkungen der Wirtschaft gekommen. An vielen Orten in der Öffentlichkeit wird die Temperatur gemessen und es stehen Desinfektionsmittel bereit. Daran mangelt es ebenso wenig wie an Schutzmasken. [2]

Ein besonderes Merkmal der Eindämmungsmaßnahmen besteht in der verpflichtenden Annahme einer Kontaktdaten-App. Die muß auch jeder Flugreisende, der in Südkorea ankommt, auf sein Smartphone laden. Die App meldet, ob sich jemand in der Nähe infiziert hat und es sich deshalb empfiehlt, sich testen zu lassen. Alle ankommenden Flugreisenden werden für zwei Wochen in Quarantäne geschickt, was unter anderem mittels der App kontrolliert wird. Man bekommt also eine elektronische Fußfessel verpaßt.

Datenschutzrechtlich wären das und andere administrative Kontrollmaßnahmen in Deutschland zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu machen. Aber sollte man deswegen den gesamten Ansatz Südkoreas in die Tonne treten? Wie viele vor allem ältere Menschen sind gestorben, nur weil andere Länder nicht genauso rasch und entschieden reagiert haben wie Südkorea? Alle besaßen die gleichen Informationen, als die Pandemie begann, und alle wußten aufgrund früherer Epidemien wie Sars (Beginn 2002) und Mers (Beginn 2012), womit zu rechnen war. Die rasche weltweite Ausbreitung von Sars-CoV-2 wurde zwar durch den Umstand begünstigt, daß viele Infizierte tagelang keine Symptome zeigten und in dieser Zeit andere Personen angesteckt haben, aber eigentlich kann keine Regierung plausibel darlegen, warum sie nicht reagiert hat.

Vor kurzem meldeten deutsche Medien, daß die Zahl der Infizierten in Südkorea wieder steigt. Bei einem Bericht der Korrespondentin Kathrin Erdmann vom ARD-Studio Tokio konnte man den Eindruck gewinnen, als empfinde sie klammheimliche Freude, daß Südkoreas Erfolgsgeschichte doch nicht so erfolgreich verläuft. Angeblich nicht. Der Bericht trug den Titel "Zu früh gefreut", begann mit "Die Party ist vorbei" und endete mit "Doch nun ist die Angst wieder da". [3]

Was war geschehen? Ein Infizierter war durch mehrere Nachtclubs in Seouls Ausgehviertel Itaewon gezogen und hatte andere Menschen angesteckt. Doch in absoluten Zahlen blieb der Anstieg der Infizierten auf einem Niveau, von dem man in Deutschland nur träumen kann. Am 9. Mai 2020 meldeten die südkoreanischen Behörden deshalb 34 Neuinfektionen. Zum Vergleich: Am selben Tag wurden in Deutschland 1878 Neuinfektionen registriert.

Nach heutigem Stand verzeichnet Deutschland 172.239 Infizierte. Bei 7.723 Verstorbenen wurde Sars-CoV-2 nachgewiesen. Südkorea hingegen hat in diesem Kontext nur 10.991 Infizierte und 260 Verstorbene vermeldet. Auch für die Einschätzung dieses Zahlenvergleichs gilt, daß die Deutung aus einer Reihe von Gründen zwar nur mit Vorsicht vorgenommen werden kann, aber daß sich hier doch sehr deutliche Tendenzen abzeichnen.

Ginge es nach den Menschen, die in wachsender Zahl in Deutschland für ihr angebliches Recht demonstrieren, zu jeder Zeit an jedem Ort andere anhusten zu dürfen, oder die möchten, daß die Risikogruppe gesellschaftlich ausgegrenzt wird, damit der Volkskörper gesund bleibt, wären absehbar sehr viel mehr Menschen vorzeitig gestorben. Jene von rechten Kräften durchsetzten "Hygienedemos" in Berlin und anderen Städten, in denen lautstarke Kritik an den Pandemiemaßnahmen der Bundesregierung geübt wird, gründen nicht in dem Wunsch, möglichst viele Menschen vor Covid-19 zu bewahren, sondern genau im Gegenteil in dem Interesse, ihnen keinen Schutz zu gewähren oder ihnen ihre Freiheit zu nehmen. Es werden genau jene "Wutbürger" sein, die jetzt behaupten, sie fühlten sich in ihren Persönlichkeitsrechten unerträglich eingeschränkt, die kalten Herzens anderen Menschen das Lebensrecht verwehren.

Südkorea wurde nicht plötzlich durch die Bekämpfung der Sars-CoV-2-Pandemie zu einem repressiven Staat. Hinsichtlich der Bedenken wegen der weitreichenden Überwachungsmöglichkeiten des Staates und der administrativen Zugriffstiefe sei gesagt, daß nicht erst seit Beginn der Pandemiebekämpfung genügend Anlässe bestehen, eine fundamentale Staatskritik zu üben. Der Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus, wie es Südkorea einigermaßen konsequent betrieben hat, wäre folglich nahtlos überzuführen in einen Kampf gegen die Beibehaltung der Bekämpfungsmaßnahmen, sobald die Krise vorbei ist, nur um im selben Lauf weiterzugehen und die Voraussetzungen zu hinterfragen, durch die Menschen in die Lage versetzt werden, andere zu überwachen und zu kontrollieren.


Fußnoten:

[1] https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-uebersterblichkeit-wie-toedlich-ist-das.1939.de.html?drn:news_id=1128453

[2] https://www.sueddeutsche.de/politik/suedkorea-coronavirus-kontrollen-1.4885088

[3] https://www.tagesschau.de/ausland/suedkorea-corona-101.html

14. Mai 2020


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