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LAIRE/1368: Coronavirus - Hilfsverweigerung ... (SB)



Der Internationale Währungsfonds bietet Entwicklungs- und Schwellenländern eine milliardenschwere Nothilfe zur Bewältigung der Folgen der Coronaviruspandemie an. Venezuela hat einen Antrag auf Förderung gestellt, wird aber unter dem offensichtlichen Vorwand abgewiesen, daß unter den 189 IWF-Mitgliedstaaten keine Klarheit besteht, wer die rechtmäßige Staatsführung des Landes innehat. Dieser Standpunkt ist unschwer als derjenige zu identifizieren, der seit längerem einen Machtwechsel in Venezuela erzwingen will. Hier wird ein Land mit rund 27 Mio. Menschen aus rein machtpolitischem Kalkül aus der Herde der sogenannten internationalen Gemeinschaft herausgedrängt und der immensen Bedrohung durch das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 geopfert.

Am 4. März gab IWF-Direktorin Kristalina Georgieva auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Weltbankpräsident David Malpass bekannt, daß ihre Finanzinstitution ein Nothilfepaket in Höhe von 50 Mrd. Dollar für Schwellen- und Entwicklungsländer aufgelegt hat. Von dieser Summe würden 10 Mrd. Dollar für die ärmsten Mitgliedsländer zinsfrei vergeben. Aufgrund der Coronaviruspandemie werde das Wirtschaftswachstum in diesem Jahr schrumpfen. Davon seien Länder mit "schwachem Gesundheitssystem" besonders betroffen, sagt Georgieva. Das erfordere global koordinierte Maßnahmen. Wörtlich sagte die IWF-Chefin:

"Die oberste Priorität bei den finanzpolitischen Maßnahmen hat die Sicherstellung von Gesundheitsausgaben an vorderster Front, um das Wohlergehen der Menschen zu schützen, sich um die Kranken zu kümmern und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Ich kann nicht genug betonen, wie dringlich es ist, die gesundheitsbezogenen Maßnahmen zu verstärken - und die Notwendigkeit, die Produktion medizinischer Güter sicherzustellen, damit das Angebot der Nachfrage entspricht." [1]

Der Internationale Währungsfonds sei seinen Mitgliedstaaten, insbesondere den verletzlichsten, vollständig verpflichtet, schließt Georgieva ihre Ansprache.

Venezuela ist Mitglied des IWF. Ein unbequemes zwar, weil es wiederholt Kritik an dessen Politik in Lateinamerika geübt hat, aber in den Statuten dieser Finanzinstitution steht nicht geschrieben, daß abweichende Ansichten zur konkreten IWF-Politik nicht zugelassen sind. Also hat Venezuela alle Berechtigung, Nothilfegelder zu erhalten. Zumal das Land aufgrund der US-Sanktionen und des extrem niedrigen Weltmarktpreises von Rohöl, dessen Export die Haupteinnahmequelle des venezolanischen Staatshaushalts bildet, eine Hyperinflation und deren Folgen erleidet. Fünf Millionen Menschen haben das Land in den letzten Jahren verlassen, 90 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Vermeidbare Krankheiten grassieren; Kinder wachsen mangelernährt auf. Kurzum, Venezuela wäre einer der ersten Anwärter auf IWF-Nothilfe und hat offenbar auch als erstes einen Antrag auf Unterstützung in Höhe von fünf Mrd. Dollar aus dem Fonds gestellt.

Vergangene Woche kam die Absage. Der Anfrage könne nicht nachgekommen werden. Rund 50 Staaten haben den früheren Parlamentspräsidenten Juan Guaidó als rechtmäßigen und Interimspräsidenten anerkannt. Das ist zwar nur rund ein Drittel der IWF-Mitgliedstaaten, was mit einiger Berechtigung so gedeutet werden kann, daß für die anderen Nicolás Maduro rechtmäßiger Präsident Venezuelas ist. Doch beim IWF haben nicht alle Staaten das gleiche Sagen. Wer mehr Geld in den Fonds einzahlt, erhält mehr Stimmgewicht. Da das IWF-Gremium für Beschlüsse eine Mehrheit von 85 Prozent benötigt, können die USA mit ihrem Anteil von 16,52 Prozent jede Entscheidung blockieren.

Die Regierungen unter anderem der USA, Deutschlands und Frankreichs unterstützen Guaidó, insofern hätte jede andere Entscheidung des IWF hinsichtlich des venezolanischen Antrags auf Nothilfe überrascht. An dem Beispiel zeigt sich jedoch, daß die Pandemie mit Sars-CoV-2 nicht die Solidarität der Nationen hervorruft, sondern eher noch deren Konkurrenz verstärkt. Was in den letzten beiden Jahren nach den umstrittenen Wahlen in Venezuela nicht gelungen war, soll nun aber mit Hilfe des Coronavirus gelingen: der Sturz der Regierung. Womöglich hofft man in Washington, Paris und Berlin, daß der Leidensdruck durch das Virus so sehr zunimmt, daß sich das venezolanische Militär gegen seinen Präsidenten stellt.

Bisher hat Venezuela 77 (Stand: 23. März) Infizierte registriert. Aufgrund der unzureichenden hygienischen Bedingungen und mangelnden medizinischen Versorgung auf der einen Seite sowie der bislang geringen Coronavirustests auf der anderen muß von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgegangen werden. Wie sich die Sars-CoV-2-Pandemie entwickelt, weiß niemand. Aber die Gefahr, daß die von dem Virus ausgelöste Lungenentzündung Covid-19 in Venezuela Hunderttausende dahinraffen wird, ist nicht gering.

500.000 tote irakische Kinder - war es das wert?, wurde 1996 die damalige US-Ministerin Madeleine Albright in einem Fernsehinterview hinsichtlich der Folgen des US-amerikanischen Embargos gegen den Irak gefragt. Sie erwiderte: "Es ist diesen Preis wert." Für einen kurzen Moment hatte die erfahrene Diplomatin Klartext geredet und unumwunden ihre Einstellung hinsichtlich der Massenvernichtung von Menschen kundgetan. Diese Ansicht war und ist weder ein Alleinstellungsmerkmal Albrights noch der US-Regierung. Wenn der IWF Venezuela nicht die gleiche Unterstützung zukommen läßt wie anderen Staaten, betreibt er wissentlich die Massenvernichtung von Menschen, von denen viele hätten gerettet werden können.

In der westlichen Berichterstattung über den Antrag Venezuelas auf Nothilfe beim IWF schwingt manchmal der Unterton mit, daß fünf Milliarden Dollar für ein Land mit nur 33 Sars-CoV-2-Infizierten (Stand: 18.3.2020) übertrieben ist. [2] Abgesehen davon, daß die Höhe des Betrags sicherlich auch als Verhandlungsbasis anzusehen ist, könnte Venezuela das Geld dringend gebrauchen. Es müssen umfangreiche medizinisch-infrastrukturelle Vorbereitungen getroffen werden, weil sich die Pandemie steigern wird. Es wird nicht bei ein paar Dutzend Infizierten bleiben.

Nun zu Guaidó. Anstatt seinem Wort treu zu bleiben und das Wohl des venezolanischen Volkes über alles zu stellen, denkt er offenbar nur an seine politische Karriere. Würde er sich dagegen zu Wort melden und erklären, daß er zwar Maduro nicht als Präsident anerkennt, aber daß die politische Auseinandersetzung nicht auf dem Rücken der absehbar in Not geratenen Menschen ausgetragen und dem Hilfeaufruf Venezuelas unbedingt stattgegeben werden sollte, könnte ihm das durchaus Ansehen einbringen. Dafür müßte er vermutlich einen Preis zahlen, nämlich den, daß er von den USA fallengelassen wird.

Aber Guaidó hat sich anders entschieden und das nicht erst jetzt. Schon zu Beginn des Konflikts war er bemüht, eine bürgerkriegsähnliche Situation im Land herzustellen oder sich gar für seine Machenschaften ausländischer Kräfte zu bedienen. Sollte er jemals in Venezuela an die Macht kommen und später gefragt werden, ob es den Preis wert sei, im politischen Machtkampf so viele Menschen an Covid-19 sterben zu lassen, indem man ihnen die Hilfe verweigert, wird er dann Reue zeigen? Oder wäre nicht eher damit zu rechnen, daß er sein Handeln rechtfertigen und versuchen wird, sich herauszureden?


Fußnoten:

[1] https://www.imf.org/en/News/Articles/2020/03/04/sp030420-imf-makes-available-50-billion-to-help-address-coronavirus

[2] https://www.nytimes.com/aponline/2020/03/17/world/americas/ap-lt-virus-outbreak-venezuela-imf.html

23. März 2020


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