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LAIRE/1357: NATO - der Trumpelpfad ... (SB)



Das Wort "Abrüstung" ist inzwischen aus dem Sprachschatz sowohl der NATO als auch der medialen Berichterstattung über die Ziele des westlichen Militärpakts verschwunden, ganz so, als habe es die Idee nie gegeben. Auch "Rüstungsspirale" ist heute kein Begriff mehr, der ernsthaft kritisch reflektiert wird.

Mitte der Woche hat die NATO in London ihr 70jähriges Bestehen gefeiert. Aus diesem Anlaß und zugleich unter dem Vorwand, die in letzter Zeit krass hervorgetretenen innere Widersprüche des Bündnisses beheben zu wollen, haben sich die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten bereits im Vorfeld des Treffens gegenseitig überreichlich beschenkt. Mehrere hundert Milliarden Euro wird das Kriegsbündnis bis Ende 2024 zusätzlich zu den laufenden Rüstungsausgaben aufbringen, kündigte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg an und bezeichnet das als einen "nie dagewesenen Fortschritt" bei den Verteidigungsausgaben.

Ist es das? Nur wenn durch Worte und Taten der Eindruck erweckt wird, daß es keine Alternative zu Aufrüstung gibt, und nur dann erscheint es als fortschrittlich, daß die NATO immer mehr Gelder in Rüstung und Vorbereitung auf einen Krieg ausgibt und sich diesen Zuwachs auch noch ins Stammbuch schreibt.

Ohne die starken Interessenunterschiede innerhalb der NATO leugnen zu wollen, hat die Kontroverse USA versus Europa auch den Aspekt des hinlänglich bekannten Guter-Cop-böser-Cop-Spiels. Indem die USA seit der Amtsübernahme von Präsident Donald Trump ihre NATO-Partner teils heftig dafür kritisieren, daß sie die Zusage nicht einhalten und noch immer nicht zwei Prozent ihrer Staatseinnahmen fürs Militär ausgeben, bemühen sich die Gescholtenen, die Wogen zu glätten und Trump zu besänftigen, indem sie aufrüsten. Das Ergebnis des Streits: Die NATO wird stärker.

Fast eine Milliarde Euro wird in die Modernisierung der vierzehn in Deutschland stationierten sogenannten Aufklärungsflugzeuge AWACS gesteckt. Deren Aufgabe besteht nicht nur darin, feindliche Einheiten frühzeitig zu erkennen, sondern auch, Ziele für die eigenen Kampfjets und Bomber ausfindig zu machen. AWACS sind fester Bestandteil eines Angriffskriegs.

Die Modernisierungskosten für die AWACS sind allerdings Peanuts gegenüber den fest vereinbarten Zusatzausgaben der europäischen NATO-Mitglieder und Kanadas in Höhe von mehr als 400 Milliarden Euro im Zeitraum 2016 bis 2024. Hier wird so massiv aufgerüstet, daß eine zukünftige Geschichtsschreibung vermutlich sagen wird, daß die NATO in den 2020er Jahren angefangen hat, von einem bereits sehr hohen Niveau aus geradezu explosionsartig hochzurüsten, um mutmaßliche Kontrahenten wie China und Rußland sowie aufstrebende Schwellenländer militärisch in Schach zu halten oder sie gegebenenfalls totzurüsten.

Worauf läuft der Fortschritt hinaus, den Stoltenberg im wachsenden Militärhaushalt sieht, auf den er so stolz ist? Werden alle anderen Länder, die nicht in der NATO vertreten oder mit ihr assoziiert sind, einknicken und den Kotau ob der militärischen Überlegenheit machen? Oder werden sie ihre Rüstungsindustrie ebenfalls befeuern und versuchen, der NATO Paroli zu bieten? Und sollten jetzt alle Seiten immer weiter aufrüsten, sorgt das dann für ein hohes Maß an Stabilität, wie es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem "Gleichgewicht des Schreckens" attestiert worden war, obgleich in eben jener Zeit im Trikont menschenvernichtende Stellvertreterkriege ohne Ende geführt wurden?

Gewiß, die beiden Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt haben keinen Krieg mit Nuklearwaffen gegeneinander geführt, als es darum ging, die Welt unter sich aufzuteilen. Doch nur mit einer eingeschränkten Sichtweise handelte es sich um einen "kalten" Krieg. Die heutigen Bedingungen der Hochrüstung unterscheiden sich indes so sehr von den damaligen, daß ein Übertragungsversuch der Abschreckungsdoktrin vom 20. auf das 21. Jahrhundert auf tönernen Füßen stände. Allein die Ressourcenverfügbarkeit ist eine andere, und die multiplen Auswirkungen des Klimawandels werden die "Stabilität" auf ihre Weise unterminieren. Beispielsweise stellt sich die Frage, wo die Dutzende Millionen Flüchtlinge, die ihre Heimat verlieren, entweder weil diese zum Meeresboden oder für Mensch und Tier lebensfeindlich wurde, in Zukunft unterkommen werden.

Von einem Gleichgewicht des Schreckens als Stabilitätsgarant kann auch deshalb heute nicht mehr gesprochen werden, weil die NATO-Führungsmacht USA die totale Dominanz zu Lande, auf dem Wasser, in der Luft, im Weltall und im Cyberraum anstrebt. Ein Krieg der hochgerüsteten Staaten, auch mit Nuklearwaffen, rückt damit in greifbare Nähe. Verstärkt wurde dieser orwellsche "Fortschritt" bei der Vermehrung der Vernichtungskapazität durch den Aufbau des westlichen Raketenabwehrschirms, zunächst in Polen und Rumänien in der Nähe der Grenze zu Rußland (selbstverständlich nur, um eine Bedrohung durch den Iran einzudämmen ...). Je zuverlässiger und umfassender der Raketenabwehrschirm funktioniert, desto größer die Gefahr, daß Rußland oder China, deren Zweitschlagskapazität damit ausgeschaltet würde, losschlagen, bevor es zu spät ist.

"Wir sind hier! Wir sind laut! Weil ihr uns die Zukunft klaut!", skandieren die Beteiligten der Fridays-for-future-Demonstrationen für mehr Klimaschutz. Die Untätigkeit der Regierungen in Richtung eines Klimaschutzes, der seinen Namen verdient, wird wohl nur noch von der Tatkraft der Regierungen übertroffen, wenn es darum geht, einen großen Krieg anzuzetteln und auf diese Weise die Zukunft der heranwachsenden Generation zu "klauen". Daß nicht mindestens mit dem gleichen Engagement gegen Aufrüstung und propagandistisches Sperrfeuer wie öffentliche Gelöbnisse demonstriert wird, zeigt zunächst vor allem die bürgerliche Herkunft der FFF genannten Klimaschutzbewegung.

Das schließt jedoch keineswegs eine weitere Politisierung der Beteiligten und Erweiterung der Fragestellung aus. Vielleicht sind die Chancen, "Abrüstung" zu einem so schlagkräftigen Kampfbegriff zu machen, daß damit den herrschenden Kräften die Basis entzogen wird, genauso gering wie, die globale Erwärmung aufzuhalten. Aber da es sich um die gleiche Zukunft handelt, die vorenthalten werden soll, bietet sich ein Zusammengehen der Ziele Abrüstung und Klimaschutz geradezu an.

5. Dezember 2019


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