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LAIRE/1338: EU - Übergriffe ... (SB)



Zweifellos stehen viele Vorgehensweisen zu Verfügung, wollte man erreichen, daß sich die Gelbwestenbewegung von Frankreich ausgehend in ganz Europa breitmacht oder daß nach dem Brexit noch weitere Unionsmitglieder den Austritt aus der Europäischen Union favorisieren. Anscheinend probiert die EU-Kommission zur Zeit eine dieser Vorgehensweisen aus. Sie will die EU-Dienstleistungsrichtlinie verschärfen und den Handlungsspielraum der Kommunen durch ein neues Notifizierungsverfahren für Dienstleistungen beträchtlich einschränken. Das regt zum Widerstand an.

Wenn eine Gemeinde, Behörde oder auch Stadt neue rechtliche Regelungen im Bereich bestimmter Dienstleistungen verabschieden will, hat sie das künftig der supranationalen EU-Kommission mindestens drei Monate vorher zur Prüfung vorzulegen. Die entscheidet dann, ob sie die Auslegung ihrer Richtlinie akzeptiert oder nicht. Zwar nehmen die Befürworter des neuen Notifizierungsverfahrens den Standpunkt ein, daß in jenen drei Monaten beraten und gründlich geprüft werden kann, ob die vorgeschlagenen Regelungen mit dem übrigen EU-Recht konform gehen und daß sie nur bei gravierenden Widersprüchen abgelehnt werden, aber wenn beispielsweise Städte nicht die Möglichkeit haben, selbsttätig akute Verwaltungsbeschlüsse zum Beispiel gegen Wohnungsnot herbeizuführen, dann wird einem Grundpfeiler der Europäischen Union der Boden entzogen: Öffentliche Aufgaben sollen bürgernah geregelt werden.

Erst wenn das nicht möglich ist, sollte die Entscheidung auf die nächsthöhere administrative Ebene verlagert werden, usw. In dem Notifizierungsverfahren greift jedoch die höchste exekutive Ebene, die EU-Kommission, dauerhaft und unmittelbar in Entscheidungen ein, die auf der untersten Ebene getroffen werden. Und dies, obgleich die EU ohnehin als Beamtenmoloch angesehen wird, der sich Kompetenzen aneignet, die ihm nicht zustehen.

Bereits 2006 hatte es Proteste der Zivilgesellschaft gegen die nach dem damaligen EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein "Bolkestein-Richtlinie" genannte EU-Dienstleistungsrichtlinie gegeben. Diese Woche haben 160 zivilgesellschaftliche Organisationen, Gewerkschaften, Kommunalpolitiker und städtische Vertreter aus mehreren EU-Ländern in einem gemeinsamen Protestschreiben die rumänische EU-Ratspräsidentschaft aufgefordert, das Notifizierungsverfahren der Richtlinie zurückzunehmen. So sagt beispielsweise Roland Süß vom Attac-Koordinierungskreis: "Diese weitere Verschärfung der EU-Dienstleistungsrichtlinie würde den Spielraum gerade auch von Kommunen massiv einschränken. Sie bedroht die lokale Demokratie und steht im Widerspruch zum Subsidiaritätsprinzip. Der Vorschlag der EU-Kommission ist daher völlig inakzeptabel." [1]

Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzip ist nicht die einzige fundamentale Weichenstellung in Richtung einer europäischen Demokratur. Auch die Gewaltenteilung wird an der Stelle hinfällig, wo die Exekutive (EU-Kommission) der Legislative (Städte und Kommunen) [2] Vorschriften macht, die nicht in Frage zu stellen sind. Die Entscheidungen der EU-Kommission sind verbindlich, gegen sie müßte im Zweifelsfall vor dem Europäischen Gerichtshof geklagt werden.

Wie viele andere Richtlinien und Direktiven der EU-Kommission zielt auch die umstrittene EU-Dienstleistungsrichtlinie auf eine Angleichung des Rechtsraums der Nationalstaaten ab. Das ist dann erforderlich, wenn die EU im Rahmen der globalen Konkurrenz gegenüber anderen großen Wirtschaftsräumen wie die USA oder China Vorteile erringen will. Die Übergriffe der EU nach innen bilden die Voraussetzung für ihre Übergriffe nach außen.

Bliebe die Europäische Union hingegen ein Flickenteppich aus politisch, rechtlich und ökonomisch weitgehend autarken Einzelstaaten, wären diese in der Summe lange nicht so einflußreich wie die heutige Union. Und der Prozeß der Verdichtung der Verwaltung dürfte im Zuge der Globalisierung noch viel weiter vorangetrieben werden. Deshalb wird der am Beispiel des Notifizierungsverfahrens entzündete Konflikt zwischen der höchsten und der niedrigsten administrativen Ebene (und den Subjekten der Verwaltung) eine permanente Begleiterscheinung der administrativen Verdichtung bleiben, solange nicht eine wesentliche Voraussetzung der bestehenden Produktionsverhältnisse in Frage gestellt wird, nämlich die Profitakkumulation und Eigentumssicherung.


Fußnoten:

[1] https://www.attac.de/startseite/detailansicht/news/160-organisationen-warnen-vor-verschaerfung-der-eu-dienstleistungsrichtlinie/

[2] Ob Städte und Gemeinden zur Exekutive oder zur Legislative gehören, wird in der Fachwelt kontrovers diskutiert. Hier wird letztere Einordnung bevorzugt.

17. Januar 2019


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