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LAIRE/1250: Europa festigt Flüchtlingsabwehr - EU-Kommissare in Libyen (SB)


Lagerhaltung von Flüchtlingen innerhalb der EU und jenseits ihrer Peripherie

Der Begriff "Wirtschaftsflüchtling" täuscht über die Rolle der Politik bei der Erzeugung und Verwaltung von Mangel hinweg


Die Europäische Union und Libyen beraten über eine engere Zusammenarbeit bei der Flüchtlingsabwehr. Das nordafrikanische Land erfüllt mehr und mehr die Funktion eines Bollwerks gegen Flüchtlinge aus all den Subsaharastaaten, in denen bewaffnete Konflikte, Armut und Hunger das Leben bestimmen. Innerhalb der Grenzen der EU-Mitgliedstaaten existieren Hunderte von Lagern, in denen Flüchtlinge aus Afrika und anderen Erdteilen unter häufig miserablen Verhältnissen ihr Dasein fristen und darauf hoffen, als politische Flüchtlinge anerkannt zu werden und Asyl zu erhalten. Auch außerhalb des EU-Raums wurden und werden Lager errichtet, um den ständigen Strom von Flüchtlingen aufzufangen. Dazwischen gibt es eine Grenze, die teils mit Händen zu greifen ist - wie der drei Meter hohe, schwer bewachte, doppelte Grenzzaun um die von Marokko umschlossenen spanischen Exklaven Ceuta und Melilla -, teils durch die Grenzschutzbehörde Frontex zu See und aus der Luft gesichert und teils in Form juristischer Mittel wie den bilateralen Rückführungsabkommen gebildet wird.

In diesem System - Lager innen, Grenzziehung, Lager außen - kommt Libyen bereits heute eine besondere Bedeutung zu. Das Land hat sich als williger Büttel der EU-Interessen erwiesen und zeigt keinerlei Skrupel bei der Abwehr von Flüchtlingen. Organisationen und Initiativen wie Pro Asyl, borderline-europe, noborder.org und viele mehr wissen zu berichten, daß das Regime in Libyen besonders hart mit Flüchtlingen umgeht. Zu Hunderten werden Menschen gefoltert, vergewaltigt, mit oder ohne vorherige Gerichtsverhandlung umgebracht, in der Wüste ausgesetzt oder auf dem Meer versenkt. Auch werden viele ohne Verfahren in ihre Heimatländer zurückgeschickt, wo ihnen mitunter das gleiche Schicksal blüht.

Am Montag forderte Pro Asyl in einer Pressemitteilung das Europaparlament auf, der "klaren Verurteilung Libyens vom Juni" nun auch "politisches Handeln" folgen zu lassen. Die EU-Kommission, die eine Partnerschaft mit Libyen anstrebe, müsse gestoppt werden. Ansonsten zerstöre die EU "den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit in Fragen der Menschenrechte und des Flüchtlingsschutzes". [1] Wo die engagierte Hilfsorganisation für Flüchtlinge einen "Rest" an Glaubwürdigkeit zu erkennt meint, ist allerdings unklar. Welch repressive Politik die libysche Regierung ansonsten auch immer betreibt, in Sachen Flüchtlingsabwehr ist sie eindeutig ein Handlungsarm der EU.

Ohne die "Festung Europa" gäbe es keine Festungsmauern und keine Wächter, die sie beschützen. Die Europäische Union verteidigt ihren Besitzstand auf libyschem Boden mit Hilfe der dortigen Regierung. Daß sich in afrikanischen Ländern Milizenbanden zusammengerottet haben, die teils eng mit Regierungen oder Teilen einer Regierung zusammenarbeiten, um den Rohstoffabbau zu kontrollieren, hat auch damit zu tun, daß sie dankbare Abnehmer für ihre Beute finden. Die EU ist einer der führenden Partner dieser Dauerraubzüge, durch die wiederum Flüchtlinge geschaffen werden, die dann an den EU-Grenzen oder schon im Festungsvorland aufgehalten werden.

Der gemeinsame, mehrtägige Besuch der EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström und des für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik zuständigen Kommissars Stefan Füles vom 4. bis zum 6. Oktober in Libyen galt insbesondere der "Zusammenarbeit in Migrationsfragen und der Verbesserung des Flüchtlingsschutzes". [2] Aus der Politik, die bisher von der Europäischen Union gezeigt wird, kann hier nicht der Schutz der Flüchtlinge vor Repressionen gemeint sein. Vielmehr schützt sich die EU vor den Flüchtlingen.

Zu diesem Kontext gehört, daß Mitglieder der Europäische Union am libyschen Erdöl interessiert sind. Vor der Küste des nordafrikanischen Staats will BP nach dem schwarze Gold bohren und ist auf die Kooperationsbereitschaft der libyschen Regierung angewiesen. Der darf man jedoch nicht ernsthaft mit Menschenrechtsfragen kommen (wenn man es überhaupt wollte), ohne solch lukrative Deals zu gefährden. Andere Abnehmer und Profiteure stehen in den Startlöchern, um gegebenenfalls einzuspringen.

Es liegt auch in der Verantwortung der Europäer, was in libyschen Flüchtlingslagern geschieht. Das Abkommen zwischen EU und Libyen wird die vernichtenden Flüchtlingsabwehrstrukturen dauerhaft befestigen, ohne die Fluchtgründe zu beseitigen. Da ein krasses Wohlstandsgefälle zwischen dem relativ reichen Europa und dem armen Afrika (außerhalb seiner gated communities) besteht und aufrechterhalten wird, werden die EU-Staaten auch in Zukunft dank der Ausrede, daß viele Flüchtlinge "nur" aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen, Asylanträge ablehnen - als ob wirtschaftliche Not, die bis zur Existenznot reichen kann, kein akzeptabler Grund ist, um sich und die eigene Familie durchbringen zu wollen.

Im Prinzip beweisen ausgerechnet die geschmähten "Wirtschaftsflüchtlinge" ein extrem hohes Maß an Flexibilität, also an genau jener Eigenschaft, mit der sich die angestammte Arbeiterschaft in europäischen Ländern angeblich noch nicht ausreichend angefreundet hat. Dennoch werden die Flüchtlinge abgelehnt. Da Armut und Not in den Ländern des Südens eine Folge der politischen Entscheidungen sind, die auch in den Metropolen der reichen Industriestaaten getroffen werden, gibt es sowieso keine Wirtschafts-, sondern immer nur politische Flüchtlinge.


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Anmerkungen:

[1] INNEN/455: EU-Innenkommissarin Malmström schließt Pakt mit Libyen (Pro Asyl), Pro Asyl - Pressemitteilung vom 6. Oktober 2010, veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2010
http://schattenblick.de/infopool/europool/politik/eupin455.html

[2] "Besuch der EU-Kommissare Malmström und Füle in Libyen zur Förderung einer engeren Zusammenarbeit", IP/10/1281, Brüssel, den 4. Oktober 2010
http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=IP/10/1281&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en

8. Oktober 2010