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LAIRE/1247: Stuttgart 21 - Landesregierung und Bahn lassen Lage eskalieren (SB)


Bahn-Chef spricht Demonstranten Widerstandsrecht gegen Bahnhofsbau ab

Richtig, kein Widerstandsrecht gegen Bahnhofsbau, aber ein Demonstrationsrecht!

Gesprächsverweigerung liegt allein auf Seiten der Regierung


Die Proteste gegen das Milliardenprojekt Stuttgart 21, das einen weitreichenden Umbau der schienengestützten Infrastruktur der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart vorsieht, haben inzwischen bundesweite Ausmaße angenommen. In zahlreichen Städten wurden und werden Solidaritätsdemonstrationen veranstaltet. Offenbar rollen die Proteste gerade erst an. Kernstück des verkürzt S21 genannten Projekts ist die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs, der von einem Kopf- zu einem Durchgangsbahnhof umgebaut werden soll, sowie der Bau einer Intercity-Schnellverkehrtrasse von Wendlingen nach Ulm. Vergangene Woche Donnerstag hat die Polizei eine friedliche Demonstration gegen das Vorhaben gewaltsam aufgelöst. Die martialisch ausgerüsteten Uniformierten waren mit Schlagstöcken, Wasserwerfern und Pfefferspray gegen die Demonstranten vorgerückt. Dabei wurden vermutlich mehrere hundert Personen verletzt, unter ihnen viele Rentner und Schüler. Angeblich erlitten auch einige Polizisten Verletzungen. Augenzeugen berichteten allerdings einhellig, daß die Demonstration friedlich verlief, als sie von den Bewaffneten attackiert wurde.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus erklärte in der "Welt am Sonntag", daß er an dem Projekt festhält und sich nicht "in die Büsche schlägt" [1], und Bahn-Chef Rüdiger Gruber behauptet in der "Bild am Sonntag" [2], daß es "ein Widerstandsrecht gegen einen Bahnhofsbau" nicht gibt. Mit dieser Formulierung läßt er die Lage eskalieren und hebt die Auseinandersetzung auf ein Konfliktniveau, als wollten die Demonstranten eine Diktatur bekämpfen.

Nicht das Widerstandsrecht wurde den Demonstranten verwehrt, sondern das Demonstrationsrecht. Der Unterschied sollte jemandem in einer so gehobenen Funktion geläufig sein, und man kann nur mutmaßen, daß Gruber den Gewalteinsatz der Polizei nachträglich rechtfertigen will. Das Grundgesetz (Paragraph 20, Absatz 4) räumt den Bürgern das Recht auf Widerstand ein, sollten staatliche Organe versuchen, die gegebene Verfassungsordnung außer Kraft zu setzen. Davon kann in Stuttgart nicht im entferntesten die Rede sein. Mit seiner Übertreibung dämonisiert der Bahn-Chef friedliche Demonstrationsteilnehmer, die lediglich einen Baustopp erreichen wollen. Wer demonstriert, leistet keinen Widerstand, sondern er appelliert. In diesem Fall geht es darum, daß die Politiker ihre Entscheidung überdenken. Das Demonstrationsrecht fällt unter das Versammlungsrecht (Artikel 8 des Grundgesetzes), das selbstverständlich das Recht abdeckt, gegen einen Bahnhofsbau zu demonstrieren.

Entweder hat Gruber in diesem Kontext das Wort "Widerstandsrecht" bewußt gewählt - dann will er mit seiner vollkommen überzogenen Formulierung offenbar eine scharfe Antwort des Staates auf die Demonstranten legitimieren - oder aber er hat sich vertan und meinte "Demonstrationsrecht". Auch diese Variante wäre höchst problematisch, denn sie zeigte, wie weit die gesellschaftlich vorherrschenden Kräfte zu gehen bereit sind, um elitäre Projekte gegen große Teile der Bevölkerung durchzusetzen.

Nach dem Fiasko und dem überaus schlechten Bild, daß die Polizei am Donnerstag abgab, beteuern die politischen Entscheidungsträger unermüdlich, sie seien gesprächsbereit. Mit dieser durchsichtigen Masche wollen sie den Demonstranten Gesprächsverweigerung zuschieben. Genau umgekehrt wird jedoch ein Schuh daraus. Die Proteste gegen S21 reichen schon viele Jahre zurück - wer, bitte schön, verweigert das Gespräch? Das Projekt habe sämtliche parlamentarischen Hürden genommen und werde nun auf den Weg gebracht, argumentieren die Befürworter. Pardon, aber die Voraussetzungen, unter denen Abgeordnete für das Projekt stimmten, haben sich gewandelt. Die Kosten des Vorhabens schießen in die Höhe!

Also wäre Schadensbegrenzung angesagt. Das bedeutete aber, einen sofortigen Baustopp zu verhängen, um den bereits angerichteten Schaden nicht noch mehr zu vergrößern. Nicht die Demonstranten sollten zur Besonnenheit aufgerufen werden, sondern die Entscheidungsträger. Die scheinen beinahe geschlossen Amok zu laufen, wobei sie einerseits die Polizei von der Leine lassen, andererseits die Bürgerinnen und Bürger mal beschimpfen, mal beleidigen und mal verbal ihrer Grundrechte berauben.

Der baden-württembergische Justizminister Ulrich Goll (FDP) bezeichnete die S21-Gegner laut der "Financial Times Deutschland" [3] als Stuttgarter "Halbhöhenpublikum" - eine Anspielung auf die gehobenen Wohnviertel in halber Hanglage. Diese Menschen seien "in zunehmender Zahl sehr unduldsam und wohlstandsverwöhnt". Sie dächten nicht an die kommende Generation, sondern nur daran, daß ihnen nichts passiere, was ihnen lästig sei. Woraus Goll auch immer sein Weltbild zimmert, man sollte von einem Beamten zumindest einen einigermaßen sicheren Umgang mit Zahlen und räumlichen Dimensionen erwarten. Für bis zu 100.000 Demonstranten, die sich allein am vergangenen Freitag zum Protest eingefunden hatten, wäre auf der vom Bahnprojekt angeblich beeinträchtigen "Halbhanglage" nicht annähernd genügend Wohnraum.

BW-Innenminister Heribert Rech (CDU) verteidigte den brutalen Polizeieinsatz vom Donnerstag als "verhältnismäßig" und lehnte einen Rücktritt ab. Auch bei ihm scheint eine ausgeprägte Wahrnehmungsstörung vorzuliegen. Wenn die gewaltsamen Übergriffe der Polizei im richtigen Verhältnis zu der friedlichen Demonstration stehen, dann dürfte sich Deutschland nicht mehr als Demokratie bezeichnen.

Die S21-Gegner werden laufend bezichtigt, sie täten so, als lebten sie in einer Diktatur. Gruber, Mappus und Rech tun einiges dafür, daß die Demonstranten diesen Eindruck gewinnen müssen. Vielleicht sollten sich die drei einmal vorstellen, sie nähmen an einer friedlichen Demonstration teil und ihnen würde ein Polizist mit der Faust ins Gesicht schlagen. Oder mit dem Knüppel auf den Kopf. Oder sie bekämen eine Ladung Pfefferspray in die Augen und würden von einem Wasserwerfer von der Straße gespült.

Obwohl Stuttgart 21 alle parlamentarischen Hürden genommen hat, sollte es in einer Demokratie, die ihren Namen verdient, möglich sein, ein solches Großprojekt zu stoppen. Nur unter dieser Voraussetzung machen Gespräche einen Sinn. Bahn und Regierung haben den Weiterbau beschlossen - die absehbare Folge einer Steigerung der Gewalt haben sie zu verantworten.


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Anmerkungen:

[1] "Stefan Mappus über Stuttgart 21: 'Ich schlage mich nicht in die Büsche'", Welt am Sonntag, 3. Oktober 2010
http://www.welt.de/die-welt/politik/article10038724/Stefan-Mappus-ueber-Stuttgart-21-Ich-schlage-mich-nicht-in-die-Buesche.html

[2] "Bahn-Chef Rüdiger Grube gegen Grünen-Chef Cem Özdemir. Pro und Contra Stuttgart 21", Bild am Sonntag, 3. Oktober 2010
http://www.bild.de/BILD/politik/2010/10/03/stuttgart-21/hg/gegenueberstellung.html##

[3] "'Wohlstandsgesellschaft' - FDP nennt Stuttgart-21-Gegner 'verwöhnt'", Financial Times Deutschland, 4. Oktober 2010
http://www.ftd.de/politik/deutschland/:wohlstandsgesellschaft-fdp-nennt-stuttgart-21-gegner-verwoehnt/50177843.html

4. Oktober 2010