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LAIRE/1094: USA bauen Raketenstellungen nicht ab, sondern aus (SB)


Neue US-Strategie - dezentrale, hochmobile Raketenstellungen

Klimawandel könnte Arktis monatelang schiffbar machen

Neue Optionen zur Einkesselung Rußlands aufgrund der Erderwärmung


Am 17. September 2009 hat US-Präsident Barack Obama angekündigt, daß er den nationalen Raketenabwehrschild der Vereinigten Staaten schneller ausbauen und leistungsfähiger machen will, als von seiner Vorgängerregierung geplant. Wörtlich sagte er, daß in Europa das System der Raketenabwehr in der Verteidigung der amerikanischen Streitkräfte und der amerikanischen Verbündeten "stärker, schlauer und schneller" sein werde. [1] Obamas Erklärung wurde von der deutschen Presse nicht angemessen gewürdigt, sondern von Spiegel über Focus bis B.Z. als Ausdruck der Entspannung interpretiert. [2]

Der US-Präsident will zwar im Rahmen der neuen Sicherheitsarchitektur nicht mehr zehn Raketenbatterien in Polen und ein Hochleistungsradar in Tschechien aufbauen, statt dessen sollen jedoch in Europa ab 2011 und damit sechs bis sieben Jahren früher als in den alten Plänen vorgesehen zunehmend verbesserte Versionen von see- und landgestützten Abfangraketen des Typs SM-3 (Standard Missile-3) sowie eine ganze Bandbreite an Überwachungseinrichtungen installiert werden, um anfliegende Raketen - angeblich aus dem Iran - abwehren zu können. [3]

In Rußland macht man sich jedoch nichts darüber vor: Das neue Raketenabwehrsystem stellt eine potentiell viel größere Bedrohung der nationalen Sicherheit dar als das unbewegliche Vorgängersystem. Wie RIA Novosti unter Berufung auf den Vertreter Rußlands bei der NATO, Dmitry Rogozin, erklärte, erweist sich der neue Raketenschild als "weniger berechenbar", sollten Teile von ihm in der Arktis stationiert werden. Das wird von ihm als "worst case scenario" bezeichnet, als schlimmste aller Optionen. Nun sollen die Raketen auf US-Schiffen installiert werden, und man könne niemals vorhersagen, wo sich diese am nächsten Tag befinden, warnte Rogozin. [4]

Wenn das Eis im Nordpolarmeer entlang der russischen Nordküste in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten als Folge des Klimawandels verschwindet, hat das nach Einschätzung des russischen Botschafters mit Sicherheit eine Präsenz der NATO in der Arktis zur Folge. So etwas sei schon seit langem geplant, weiß er zu berichten. Wenn es ganz schlecht komme, würde dort die "strategische Verteidigung der USA" an Bord von Schiffen aufgebaut.

"Strategische Verteidigung" - mit dieser Bezeichnung bringt es Rogozin auf den Punkt: Es geht den USA nicht (nur) um eine Raketenabwehr gegen iranische Mittelstreckenraketen - über Langstreckenraketen verfügt das Land nicht, und es gibt bislang keine Anzeichen, daß es im Begriff ist, welche zu entwickeln -, sondern um die geostrategisch vorteilhafte Positionierung seiner Streitkräfte. Vor allem Rußland und China sollen eingekreist, geschwächt und entmachtet werden, da beide über nuklear bestückte Langstreckenraketen verfügen und sich der Ausbreitung des nicht zuletzt mit militärischen Mitteln vorgetragenen US-Imperialismus wirksam widersetzen könnten.

Selbstverständlich würde die NATO dauerhaft vor der Nordküste Rußlands auftauchen, sollten es die Eisverhältnisse zulassen. Solche Ambitionen lassen sich indirekt auch am russisch-georgischen Krieg Anfang August 2008 ablesen. Plötzlich tummelten sich Kriegsschiffe der USA und NATO im Schwarzen Meer vor der georgischen Küste und "zeigten Präsenz". Ausgerechnet an der empfindlichen Südflanke Rußlands, in Raketenreichweite zu Moskau, und zu einem Zeitpunkt, als kurz zuvor eine von US-Militärberatern aufgebaute und ausgebildete georgische Armee Südossetien angegriffen hatte, wie jetzt eine von der Europäischen Union einberufene, unabhängige Untersuchungskommission bestätigte. [5]

Die Vereinigten Staaten streben erklärtermaßen militärisch die "full spectrum dominance" an, also die Vorherrschaft zu Wasser, zu Lande, in der Luft und im Weltraum. Die Möglichkeit, von der Arktis aus ein Bedrohungsszenario gegen Rußland aufzubauen, werden sich die USA auf keinen Fall entgehen lassen. Darüber hinaus zählt die Sicherung von Ressourcen und Transportwegen zu den Kernaufgaben der NATO. Sollte die Arktis innerhalb der nächsten Jahrzehnte zumindest sommers eisfrei werden, wie Wissenschaftler prognostizieren, so würde das dort erstmals den Abbau von Rohstoffen, unter anderem von Erdöl, Erdgas und Gold, ermöglichen.

Die territoriale Nutzungsfrage der Arktis ist jedoch zur Zeit ungeklärt, russische Ansprüche überschneiden sich mit westlichen (Kanada, Dänemark, USA, Norwegen). Das birgt zusätzlich ein bislang unausgelotetes Konfliktpotential. Als noch prekärer dürfte sich jedoch erweisen, was Rogozin als schlechtestes aller Szenarien bezeichnet, nämlich daß sich für die USA durch den Klimawandel eine neue Option zur Bedrohung Rußlands ergibt. 2020 wolle man Spezialstreitkräfte zum Schutz der politischen und wirtschaftlichen Interessen in der Arktis aufstellen, teilte ein Sprecher des russischen Sicherheitsrats im März dieses Jahres mit. [6]

Seegestützte Abfangraketen der NATO im Nordmeer würden sich unmittelbar gegen die Zweitschlagskapazität Rußland richten. Da kann es nicht beruhigen, daß Obama die Vervollständigung des Raketenabwehrschilds beschleunigen und weitere Kriegsschiffe mit laufend modernisierten Raketen, die im strategischen Rahmen eben nicht der Verteidigung dienen, bestücken will.


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Anmerkungen:

[1] "Remarks by the President on Strengthening Missile Defense in Europe", The White House, Office of the Press Secretary, 17. September 2009
http://www.globalsecurity.org/space/library/news/2009/space-090917- whitehouse01.htm

[2] "Raketenabwehrschild. Alle loben Obamas Entscheidung - Außer Polen und Tschechien", Fokus online, 17. September 2009
http://www.focus.de/politik/weitere-meldungen/raketenabwehrschild- alle-loben-obamas-entscheidung-ausser-polen-und-tschechien_aid_ 436742.html

"Verzicht auf Raketenabwehr. Obama umgarnt Russland", Spiegel online, 17. September 2009
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,649752,00.html

"Plan aufgegeben. Obama will Raketenschild zurückstellen", B.Z., 17. September 2009
http://www.bz-berlin.de/aktuell/welt/obama-will-raketenschild- zurueckstellen-article585500.html

[3] "Fact Sheet on U.S. Missile Defense Policy: A 'Phased, Adaptive Approach' for Missile Defense in Europe, The White House, Office of the Press Secretary, 17. September 2009
http://www.globalsecurity.org/space/library/news/2009/space-090917- whitehouse02.htm

[4] "U.S. could deploy missile shield in Arctic - Russia's NATO envoy", RIA Novosti, 28. September 2009
http://www.globalsecurity.org/space/library/news/2009/space-090929- rianovosti01.htm

[5] "Bericht: Schuld am Kaukasus-Krieg bei Georgien und Russland", 30. September 2009
http://www.dw-world.de/dw/function/0,,12356_cid_4746705,00.html

[6]"Russia to deploy special Arctic force by 2020 - Security Council", RIA Novosti, 27. März 2009
http://www.globalsecurity.org/wmd/library/news/russia/2009/russia- 090327-rianovosti02.htm

30. September 2009