Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → MEINUNGEN


STANDPUNKT/748: Blind in Gaza (Uri Avnery)


Blind in Gaza

von Uri Avnery, 14. April 2018


NOTIEREN SIE: Ich, Uri Avnery, Soldat Nummer 44410 der israelischen Armee, distanziere mich hiermit von den Scharfschützen der Armee, die unbewaffnete Demonstranten entlang des Gazastreifens ermordeten, sowie von ihren Kommandern, die ihnen die Befehle dazu erteilten, bis hin zu den Oberbefehlshabern.

Wir gehören nicht zur selben Armee, oder zum selben Staat. Wir gehören kaum zur selben Menschenrasse.


BEGEHT MEINE Regierung "Kriegsverbrechen" entlang der Grenze des Gazastreifens?

Ich weiß es nicht. Ich bin kein Jurist.

Es scheint, als ob die Juristen des Internationalen Strafgerichtshofs glauben, dass die Taten unserer Soldaten Kriegsverbrechen sind. Sie fordern eine internationale Untersuchung.

Um das zu verhindern, schlägt unser Armeekommando eine israelische Militäruntersuchung vor. Das ist mehr als lächerlich - eine Untersuchung durch die Armee aufgrund von Taten, die auf direkten Befehl des Stabschefs begangen wurden.

Wie zuvor veröffentlicht, wurden Scharfschützen entlang des Grenzzaunes postiert und ihnen befohlen, "Anführer" der unbewaffneten Demonstranten auf der anderen Seite des Zauns zu töten. Die Führung in Gaza hatte angekündigt, dass diese unbewaffneten Proteste jede Woche nach den Freitagsgebeten bis zum Nakba-Gedenktag stattfinden würden.

An den ersten beiden Freitagen wurden 29 unbewaffnete Menschen erschossen und mehr als tausend durch Scharfschützen verwundet.

Für mich ist das keine juristische Frage. Es ist ein Verbrechen, nicht nur gegen die unbewaffneten Demonstranten. Es ist auch ein Verbrechen gegen den Staat Israel, gegen das Volk von Israel und gegen die israelische Armee.

Da ich ein Mitglied dieser Armee am Tag ihrer Gründung war, empfinde ich es auch als ein Verbrechen gegen meine Kameraden und mich selbst.


IN DIESER Woche haben viele in Israel ein kurzes Video gesehen, das ein Soldat während einer solchen Aktion aufgenommen hat.

Es zeigt die Tat aus der Perspektive eines Soldaten, der offenbar neben einem Scharfschützen stand. Der Scharfschütze sieht die Demonstranten aus einer Entfernung von mehreren hundert Metern. Mit seinem Zielfernrohr nimmt er sie beliebig ins Visier. Dann legt er sich auf eine Person fest. Er schießt. Die Person bricht auf der Stelle zusammen.

Ein Freudenschrei, "Yesh", ist von allen nicht sichtbaren Soldaten zu hören, die das beobachtet haben. "Yesh" bedeutet, "hab ihn", ein Jubelschrei, wie der, der ertönt, wenn ein Jäger erfolgreich einen Hasen geschossen hat.

Viele Hunderttausende Israelis haben diesen Film bis jetzt gesehen, seit er das erste Mal im Fernsehen gezeigt wurde. Außer einigen Artikeln und Briefen an den Herausgeber (in Haaretz), gab es keinen Protest.

Das geschah nicht in Übersee, in irgendeiner entfernten Kolonie. Es geschah direkt neben uns, 45 Minuten Autofahrt von meinem Haus entfernt.

Der Mörder war kein abgebrühter Söldner. Er - und die fröhlichen Soldaten um ihn herum - waren ganz normale Jugendliche, die im Alter von 18 Jahren eingezogen worden waren, wie die meisten jüdischen Israelis.

Alle von ihnen "befolgten nur Befehle". (Erinnern Sie sich?) Wir hörten nicht von einem einzigen Vorfall, bei dem ein Soldat Befehle verweigerte.


BIS VOR ZWEI Wochen hatte ich den höchsten Respekt vor unserem höchsten Offizier, dem Stabschef Gadi Eizenkot. Umgeben von Offizieren, die nur Militärtechniker sind, schien er ein Offizier zu sein, der trotz seiner unmilitärischen Erscheinung sehr wohl fähig war, die Würde der Armee gegen den Rabauken aufrechtzuerhalten, der als Verteidigungsminister dient.

Jetzt nicht mehr. Eizenkot hat den mörderischen Befehl erteilt. Warum, um Himmelswillen?

Wie die Briten in Indien und die weißen Rassisten in den USA, weiß die israelische Regierung nicht, wie sie mit unbewaffnetem Protest umgehen soll. Sie wurde damit noch nie konfrontiert. Er existiert nicht in der arabischen Tradition.

Durch Zufall sah ich diese Woche den klassischen Film über Mahatma Gandhi. Die Briten versuchten alles - sie prügelten ihn und unzählige andere krankenhausreif. Sie erschossen Tausende andere. Als Gandhi und seine Anhänger diese Qualen erlitten und nicht zurückschlugen, gaben die Briten sich schließlich geschlagen und zogen von dannen.

So taten es auch die weißen rassistischen Gegner von Martin Luther King in Alabama. Ein palästinensischer Anhänger von ihm kam in dieses Land zu Beginn der Besetzung und versuchte seine Landsleute zu überzeugen, diese Art und Weise zu versuchen. Die israelische Armee eröffnete das Feuer, und die Palästinenser wandten sich wieder dem bewaffneten Kampf zu.

Nicht dieses Mal. Die (sonst Gewalt anwendende) islamistische Hamas im Gazastreifen ruft die Bevölkerung auf, unbewaffnete Proteste zu erproben und Zehntausende folgen dem Aufruf. Das konnte zu unvorhergesehenen Ergebnissen führen. Eines davon ist, dass den Scharfschützen befohlen wurde, mehr oder weniger zufällig ihre Opfer zu wählen.


ALS ICH öffentlich bekannte, dass ich mich dessen schäme, beschuldigte mich ein Leser der Heuchelei. Er zitierte aus meinen beiden Büchern über unseren Unabhängigkeitskrieg (1948), in denen ich Grausamkeiten beschrieben hatte, bei denen ich Zeuge war.

Sicher, es gab Grausamkeiten (wie in jedem Krieg). Die Täter waren Soldaten aller ethnischen und sozialen Gruppen. Aber sie wurden von einigen ihrer Kameraden angeprangert (auch aus allen ethnischen und sozialen Gruppen). Die meisten Soldaten standen zwischen diesen beiden Gruppen und schlossen sich jeweils dem an, der sie am ehesten überzeugen konnte.

Jetzt ist es anders. Nicht nur, dass unbewaffnete Demonstranten, die weit vom Zaun entfernt waren, auf Befehl erschossen wurden, sondern es erheben sich keine Gegenstimmen. Das Militär und die politische Führung haben sich vereint. Sogar in der Zivilgesellschaft gibt es nur wenige Stimmen gegen den Massenmord.


WIE REAGIEREN die israelischen Medien? Nun, sie reagieren gar nicht. Dieses folgenschwere Ereignis in der israelischen Geschichte wird von den Medien beinahe völlig ignoriert.

Zum Glück für die Täter gibt es viele Ereignisse, die uns von ihren Taten ablenken. Präsident Bashar al-Assad hat chemische Waffen gegen seine Rebellen eingesetzt. Die israelischen Medien feiern das: Wie furchtbar! Wie barbarisch! Wie arabisch!

Dann gibt es noch das Problem der 36.000 "illegalen" (d.h. nicht-jüdischen) afrikanischen Arbeiter, die nach Israel kamen. Die Regierung will sie hinauswerfen. Anständige Israelis wollen das richtigerweise verhindern. Das ist ein full-time Job. Keine Zeit für den Gazastreifen.

Und natürlich gibt es den Holocaust-Gedenktag, der passenderweise diese Woche stattgefunden hat. Man kann endlos über dieses schreckliche Kapitel in unserer Geschichte schreiben. Was ist Gaza, verglichen mit diesem schrecklichen Ereignis?



WAS IST mit unseren Medien?

Die besorgniserregende Tatsache ist, dass die israelischen Medien zurückgekehrt sind zu dem, was sie in den frühen Tagen des Staates waren: Instrumente der Regierung. Mein Nachrichtenmagazin brauchte viele Jahre, um diese Gewohnheit zu durchbrechen. Viele Jahre lang hatten wir eine anständige Presse mit einigen wunderbaren Journalisten und Berichterstattern.

Jetzt nicht mehr. Ein paar sind geblieben, aber die große Mehrheit der Presse ist nun mit dem Regime gleichgeschaltet. Zwei Minuten über Gaza, 20 Minuten darüber, was in Syrien geschieht, 10 Minuten über den letzten (eingebildeten) Ausbruch des Antisemitismus in der britischen Labor Partei.

Die meisten der Journalisten und Berichterstatter, alle ehrenhafte und wohlmeinende Menschen, sind sich noch nicht einmal bewusst, was sie tun (und nicht tun). Andere als ihre eigenen Gedanken kennen sie nicht.



WO IST die "Linke"? Wo ist die sogenannte "Mitte"?

Sie sind nicht verschwunden, wie einige beklagen. Bei weitem nicht. Eine Veränderung von einigen Prozenten oder eine Bewegung einer der kleinsten Parteien würde genügen, um Binyamin Netanyahu zu stürzen.

Aber sie alle scheinen gelähmt zu sein. Niemand wagt, sich gegen das Töten auszusprechen, außer etwas leisem Geflüster. Sogar die vielen bewundernswerten Gruppen von Jugendlichen, die gegen die Besetzung kämpfen, jeder auf einem speziellen Gebiet, schweigen über das Töten in Gaza.

Keine Massendemonstrationen. Keine gewaltigen Proteste. Nichts.

Darum sind auch wir schuld an dem, was geschieht. Und vielleicht mehr als andere.

Bitte notieren Sie: Ich bin schuldig!



Copyright 2018 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Inga Gelsdorf, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

*

Quelle:
Uri Avnery, 14.04.2018
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. April 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang