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STANDPUNKT/663: "Wer aber bekennt und lässt" (Uri Avnery)


"Wer aber bekennt und lässt"

von Uri Avnery, 10.6.2017


IM TUMULT der letzten paar Tage im Zusammenhang mit dem 50. Jahrestag der "Vereinigung" Jerusalems, wurde in einem Artikel behauptet, dass "sogar der Friedensaktivist Uri Avnery" in der Knesset für die Vereinigung der Stadt gestimmt habe.

Das ist wahr. Ich habe versucht, in meiner Autobiographie "Optimistisch", die Umstände darzustellen. Aber nicht jeder hat das Buch gelesen und bis heute ist es nur auf Hebräisch erschienen.

Deshalb will ich noch einmal versuchen, dieses seltsame Votum zu erklären - zu erklären, nicht zu rechtfertigen.


AM DIENSTAG, den 27. Juni 1967, zwei Wochen nach dem Sechstagekrieg, bin ich am Morgen nicht aufgestanden. Ich hatte eine Grippe und Rachel, meine Frau, gab mir eine Menge Medizin. Ganz unerwartet rief man mich aus der Knesset an und sagte mir, dass die Knesset gerade eine Debatte angefangen hat, in der es um die Vereinigung von Jerusalem geht, was aber nicht auf der Tagesordnung stand.

Ich sprang aus dem Bett und fuhr wie ein Verrückter von Tel Aviv nach Jerusalem, etwa 65 km. Bei der Ankunft wurde mir erzählt, dass die Liste der Redner schon geschlossen worden sei. Aber der Vorsitzende Kadish Luz, berühmt wegen seiner Fairness, setzte meinen Namen noch auf die Liste.

Ich hatte nur ein paar Minuten zum Nachdenken. Mein parlamentarischer Assistent Amnon Zichroni riet mir, dagegen zu stimmen oder wenigstens mich der Stimme zu enthalten. Es war keine Zeit mehr, mich mit den führenden Mitglieder meiner Partei "Haolam Hazeh - neue Kraft" zu beraten. Ich entschied mich spontan, dafür zu stimmen.

Das war hauptsächlich eine instinktive Reaktion. Sie kam aus der Tiefe meiner Seele. Aber der erstaunliche Triumpf, den wir nach drei Wochen zunehmender Beklemmung hatten feiern können, der riesige Sieg in nur sechs Tagen, erschien uns wie ein Wunder. Die ganze jüdische Bevölkerung befand sich in Ekstase. Diese Stimmung ging über alle teilenden Grenzen hinweg.

Ost-Jerusalem war das Zentrum der Massen-Ekstase. Es war wie ein Tsunami. Massen strömten zur Klagemauer, die seit 19 Jahren unerreichbar war. Beide, die Gläubigen wie auch die Ungläubigen, wurden angesteckt.

Ich empfand, dass eine politische Bewegung, die beabsichtigt, die Massen für eine neue Perspektive zu gewinnen, in einem solchen Augenblick nicht außerhalb des Volkes stehen dürfe. Angesichts eines solchen Sturms, darf sie sich nicht distanzieren.

Ich selbst blieb von dem emotionalen Sturm nicht unberührt. Ich liebte Jerusalem. Vor der Teilung des Landes im 1948er-Krieg, in dem Jerusalem geteilt wurde, war ich oft durch die Gassen der arabischen Stadtteile gewandert. Nach diesem Krieg sehnte ich mich nach der Altstadt in einer fast physischen Weise. Als die Knesset Sitzung hatte, pflegte ich oft im King-David-Hotel zu wohnen, von dem aus man die Altstadt überblickte, und ich erinnere mich an viele Nächte, in denen ich am offenen Fenster stand und den Hunden zuhörte, die in der Ferne, jenseits der Mauer, das Schweigen unterbrachen - und ich empfand Sehnsucht.

Aber außer den Emotionen, gab es auch eine logische Überlegung.

Schon 1949, bald nach dem Krieg - während dessen Israel gegründet wurde - begann ich, mich für die "Zwei-Staaten-Lösung" einzusetzen - die Errichtung eines unabhängigen Staates Palästina Seite an Seite mit dem Staat Israel, als zwei gleichberechtigen Staaten im Rahmen einer Föderation.

1957, nach dem Sinai-Krieg veröffentlichte ich zusammen mit Natan Yellin-Mor, dem früheren Führer der Lehi-Untergrundorganisation (auch Stern-Gruppe genannt), dem Schriftsteller Boaz Evron und anderen das Dokument "Das hebräische Manifest", auf das ich noch heute stolz bin. In jener Zeit waren Ost-Jerusalem und die Westbank Teil des jordanischen Königreichs. Unter anderem hieß es in dem Dokument:

"21. Das ganze Erez Israel (Palästina) ist die Heimat von zwei Nationen - der hebräischen, die ihre Unabhängigkeit im Rahmen des Staates Israel erhalten hat und der arabisch-palästinensischen, die noch nicht die Unabhängigkeit erreicht hat. Der Staat Israel wird der Befreiungsbewegung der palästinensischen Nation ..., die danach strebt, einen freien palästinensischen Staat zu errichten, der ein Partner des Staates Israel sein wird, politische und materielle Unterstützung anbieten ...

22. Eine Föderation der Teile von Erez Israel (Palästina) soll errichtet werden. Das wird die Unabhängigkeit aller dazugehörigen Staaten gewährleisten.

Nach diesem Plan sollte Jerusalem eine vereinigte Stadt werden, die Hauptstadt Israels, die Hauptstadt Palästinas und die Hauptstadt der Föderation.

In jener Zeit sah dies wie eine ferne Vision aus. Aber nach dem 1967-Krieg war die Vision plötzlich real geworden. Das jordanische Regime war besiegt. Keiner glaubte ernsthaft, dass die Welt Israel erlauben würde, die Gebiete, die es erobert hatte, zu behalten. Es schien mir klar, dass wir gezwungen werden würden, sie zurückzugeben, wie wir dies nach dem vorigen Krieg, dem Sinai-Krieg von 1956, hatten tun müssen.

Ich war davon überzeugt, dass diese Situation uns die historische Gelegenheit geben würde, unsere Vision zu realisieren. Damit dies geschieht, müssten wir zuerst die Rückgabe der Gebiete an Jordanien verhindern. Die Vereinigung der beiden Teile Jerusalems sah für mich wie der logische erste Schritt aus. Umso mehr als in dem vorgeschlagenen Gesetz die Worte "Annexion" und "Vereinigung" nicht vorkamen. Es hieß lediglich, dort würde israelisches Recht angewandt.

All dies ging während dieser paar Minuten, die ich hatte, durch meinen Kopf. Ich näherte mich dem Rednerpult und sagte: "Es ist kein Geheimnis, dass ich und meine Kollegen die Vereinigung des Landes in einer Föderation des Staates Israel und eines zukünftigen palästinensischen Staates, der in der Westbank und im Gazastreifen entstehen muss, anstreben. Eine Föderation, deren Hauptstadt das vereinigte Jerusalem als Teil des Staates Israel sein wird".

Die letzten Worte waren natürlich ein Fehler. Ich hätte sagen sollen: "als ein Teil des Staates Israel und des Staates Palästina".


DIE GRÜNDE für mein Votum waren logisch, wenigsten zum Teil, aber das ganze Votum sah mir im Rückblick wie ein schwerer Fehler aus. Nach einer kurzen Zeit entschuldigte ich mich öffentlich. Ich habe diese Entschuldigung viele Male wiederholt.

Innerhalb einer kurzen Zeit wurde es ganz klar, dass der Staat Israel nicht im Traum daran dachte, den Palästinensern zu erlauben, einen eigenen Staat zu errichten, und noch weniger, die Herrschaft über Jerusalem zu teilen. Heute ist es klar, dass vom ersten Tag an - noch unter der Regierung der Labor-Partei, die von Eshkol geführt wurde - die Absicht bestand, diese Gebiete für immer oder so lang wie möglich zu behalten.

11 Jahre zuvor, nach dem Sinai-Krieg, hatte sich David Ben-Gurion den parallelen Ultimaten der Führer der USA und der Sowjetunion Dwight Eisenhower und Nikolai Bulganin gefügt. 105 Stunden nach der Erklärung des "Dritten israelischen Königreichs" verkündete Ben-Gurion mit gebrochener Stimme im Radio, er wolle all die eroberten Gebiete zurückgeben.

Es war unglaublich, dass der schwache Eshkol siegen würde, wo der große Ben-Gurion versagt hatte und an den eroberten Gebieten festhielt. Aber gegen alle Erwartungen gab es überhaupt keinen Druck, irgendetwas zurückzugeben. Die Besetzung dauert bis zum heutigen Tag an.

Deshalb stellte sich die Frage nicht mehr, ob die Gebiete dem Königreich von Jordanien zurückgegeben oder in den Staat Palästina umgewandelt werden sollten.

Übrigens gab es in jenen Tagen, als der Ruhm unserer Generäle in den Himmel wuchs, einige unter ihnen, die offen oder im Geheimen die Idee der Errichtung eines palästinensischen Staates Seite an Seite mit Israel unterstützten. Der freimütigste war General Israel Tal, der berühmte Panzer-Kommandeur. Ich bemühte mich sehr, ihn zu überzeugen, die Führung des Friedenslagers zu übernehmen, aber er zog es vor, seine Bemühungen dem Bau des Merkava-Panzers zu widmen.

Jahre später versuchte ich es bei General Eser Weizman, den früheren Luftwaffen-Kommandeur und den wirklichen Sieger des 1967er-Krieges. Seine nationalistischen Überzeugungen änderten sich und näherten sich denen unsrer Gruppe an. Aber er zog es vor, Präsident von Israel zu werden.

Sogar Ariel Sharon spielte einige Jahre mit diesen Ideen. Er zog einen palästinensischen Staat der Rückgabe an Jordanien vor. Er sagte mir, dass er in den 50er-Jahren, als er noch in der Armee diente, dem Generalsstab vorschlug, die Palästinenser gegen das jordanische Regime zu unterstützen. Er schlug das im Geheimen vor, während ich dies öffentlich verlangte.

Aber all das Theoretisieren konnte sich nicht gegen die Wirklichkeit behaupten: die Besatzung verschärfte sich von Tag zu Tag. Die Bereitschaft, alle besetzten Gebiete aufzugeben - sogar unter idealen Umständen - schwanden immer mehr dahin.

Was war auf der anderen Seite?

Ich hatte viele Gespräche mit dem (auch von mir) bewunderten Führer der arabischen Bevölkerung Ost-Jerusalems, Faissal al-Husseini. Die Idee eines vereinigten Jerusalems, der Hauptstadt von zwei Staaten, sprach auch ihn an. Wir entwarfen zusammen einen Aufruf in diesem Geist. Wir redeten darüber natürlich auch mit Yasser Arafat und er war damit vollkommen einverstanden, aber er war nicht bereit, dies in der Öffentlichkeit zu bestätigen.


ZWEI WOCHEN nach der Knesset-Abstimmung veröffentlichte ich in meinem wöchentlichen Magazin Haolam Hazeh einen neuen Plan und zwar unter der Schlagzeile "Eine grundlegende, faire und praktische Lösung". Im ersten Absatz stand: "Es wird eine Föderation von Erez Israel (Palästina) geschaffen, die den Staat Israel, den Gazastreifen und die Westbank einschließen wird, die Hauptstadt davon wird Groß-Jerusalem sein."

Dieser Plan wurde von der erstaunlich großen Anzahl von 64 wohlbekannten israelischen Persönlichkeiten unterschrieben, einschließlich dem Schriftsteller Dan Ben-Amotz, dem Humoristen Uri Zohar, dem Friedenspiloten Abie Nathan, dem Verleger Amikan Gurevitch, dem Bildhauer Yigal Tomarkin, dem Maler Dani Karavan, Nathan Yellin-Mor, Kapitän Nimrod Eshel, Filmmacher Alex Massis, Schriftsteller Boaz Evron, der Journalistin Heda Boshes, dem Kunst-Kurator Yona Fischer und dem berühmten Pädagogen Ernst Simon, einem engen Freund des schon verstorbenen Martin Bubers.

Dieses Dokument - wie alle früheren Pläne, schlossen das Ziel mit ein, regionalen Rahmen ähnlich dem der Europäischen Union, die damals im Entstehen war, zu schaffen.

(Übrigens verbreitet sich neuerdings in einigen Kreisen als neue Mode eine neue ideale Lösung des Konflikts: die Errichtung einer israelisch-palästinensischen Föderation und eine "regionale Lösung". Ich nehme an, dass viele der neuen Fürsprecher dieser Lösung noch nicht geboren wurden, als diese Dokumente veröffentlicht wurden. Wenn es so ist, muss ich sie alle enttäuschen: all diese Ideen wurden schon vor langer Zeit geäußert. Dies sollte sie jedoch nicht entmutigen. Mögen sie gesegnet sein!)


IN DEN neuen Veröffentlichungen wurde auch erwähnt, dass ich vorschlug, das Lied "das goldene Jerusalem" zur Nationalhymne Israels zu machen.

Naomi Shemer schrieb dieses wundervolle Lied für einen Wettbewerb in Jerusalem, als noch niemand auch nur im Traum an den Sechstagekrieg von 1967 dachte.

Ich mag die gegenwärtige Nationalhymne "Hatikvah" ("Die Hoffnung") überhaupt nicht. Der Text handelt vom Leben der Juden in der Diaspora, und die Melodie scheint von einem rumänischen Volkslied zu stammen. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass mehr als 20% der israelischen Bürger Araber sind. (Vielleicht sollten wir von Kanada lernen, das vor langem die britische Nationalhymne und Flagge aus Rücksicht auf seine 20% französisch sprechenden Bürger ersetzte.)

Ich entschloss mich, der Knesset Shemers Lied als Nationalhymne vorzuschlagen. Nach dem 1967er Krieg war es schon zum Schlager der Massen geworden. Ich beantragte einen entsprechenden Gesetzentwurf.

Das war natürlich ein fragwürdiger Vorschlag. Shemer erwähnte in ihrem Lied nicht, dass es in Jerusalem Araber gibt. Die Worte haben einen starken nationalistischen Beigeschmack. Aber ich dachte, dass wir, wenn der Gedanke an das Lied als neuer Nationalhymne angenommen würde, den Text berichtigen könnten.

Der Knesset-Vorsitzende Luz war bereit, den Gesetzentwurf anzunehmen. Er wollte ihn jedoch nur dann auf die Tagesordnung setzen, wenn Naomi Shemer einverstanden sei. Ich verabredete mich mit ihr und führte in einem Café ein nettes Gespräch mit ihr. Sie war nicht direkt einverstanden, gestattete mir aber zu erklären, dass sie nicht dagegen sei.

Während des Gesprächs hatte ich die ganze Zeit das Gefühl, dass es ein unausgesprochenes Widerstreben auf ihrer Seite gab. Ich erinnerte mich Jahre später daran, als herauskam, dass die mitreißende Melodie nicht wirklich von ihr komponiert worden war, sondern aus einem baskischen Volkslied stammte. Sie tat mir leid.


UM DAS Votum des "Friedensaktivisten Uri Avnery" für die "Vereinigung" von Jerusalem zusammen zu fassen, so war es ein großer Fehler. Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um mich noch einmal zu entschuldigen.

Ich bitte um die Anwendung des biblischen Verses (Sprüche 28,13) "Wer seine Sünde bekennt und lässt, der wird Barmherzigkeit erlangen."(*)


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
(*) He that covereth his sins shall not prosper, but whoso confesseth and forsaketh them shall have mercy.
Proverbs 28:13
21st Century King James Version (KJ21)



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 10.06.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2017

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