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STANDPUNKT/548: Was geschah nur mit den Juden? (Uri Avnery)


Was geschah nur mit den Juden?

von Uri Avnery, 26. März 2016


PLÖTZLICH ERINNERE ich mich, wo ich das schon vorher einmal gesehen habe.

Dieselbe Art von Gesicht, dasselbe vorgeschobene Kinn, um einen Ausdruck von Kraft und Entschlossenheit zu erzeugen.

Dieselbe Art und Weise des Sprechens. Einzelne Sätze und dann eine Pause, um auf das Beifalls-Geschrei der Menge zu warten.

Dieselbe Kombination aus Monster und Clown.

Ja, unverkennbar. Ich habe dies in meiner frühen Kindheit in der Wochenschau gesehen.

Benito Mussolini. Rom. Piazza Venezia. Der Duce auf einem Balkon. Die Menschenmenge unten auf dem Platz. Außer sich. Applaudiert. Schreit bis sie heiser ist. Eine Massenorgie von Dummheit.

In dieser Woche sah und hörte ich es wieder. Dieses Mal im Fernsehen.



ES GAB natürlich Unterschiede.

Der Präsidentschaftskandidat Donald Trump sprach in Washington DC, dem modernen Nachfolger des alten Rom.

Der Duce war glatzköpfig und trug deshalb immer einen abstrusen Hut, der extra für ihn entworfen wurde. Trump trug sein Markenzeichen, das orange, sorgfältig von ihm selbst (so sein Butler) arrangierte Haar.

Mussolini sprach italienisch, eine der schönsten Sprachen der Welt, auch wenn es aus dem Mund eines Diktators kommt. Trump sprach amerikanisch-englisch, eine Sprache, die nicht einmal seine eifrigsten Bewunderer melodisch nennen würden.

Der größte Unterschied lag jedoch in der Art des Publikums. Der Duce sprach zum römischen Mob, der ein später Nachfolger der altrömischen plebs war, die, nicht weit vom Balkon des Duce entfernt, in der Arena nach Blut geschrien hatte.

Trump sprach - es ist unglaublich - zu einem Publikum aus meist älteren, reichen und gebildeten Juden.

Juden, um Himmels Willen! Leute, die im Stillen glauben, dass sie das intelligenteste Volk auf Erden seien! Juden, die außer sich sind und nach jedem Satz klatschen, auf und ab springen, als ob sie vom Teufel besessen wären.



WAS IST mit diesen Juden geschehen?

Es ist eine traurige Geschichte. Während des Zweiten Weltkrieges, als der Holocaust in vollem Gange war, verhielten sich die amerikanischen Juden still. Sie nutzten ihre schon beträchtliche politische Macht nicht dazu, den Präsidenten zu überreden, etwas zu tun, das die europäischen Juden wirklich hätte retten können. Sie waren ängstlich. Sie fürchteten, der Kriegstreiberei beschuldigt zu werden.

Mein Bruder, ein Soldat in der britischen Armee, brachte mir einmal ein Nazi-Flugblatt, das von der deutschen Luftwaffe über der amerikanischen Linie in Italien abgeworfen wurde. Es zeigte einen dicken, hässlichen Juden, der ein blondes amerikanisches Mädchen umarmte. Darunter stand so etwas wie: "Während du hier dein Blut vergießt, verführt ein reicher Jude in der Heimat deine Freundin!"

Die Juden fürchteten, etwas zu tun, das als eine Bestätigung der Nazi-Propaganda hätte gelten können: Dieser Krieg sei von Juden und ihrem Strohmann "Präsident Rosenfeld" mit dem Ziel angezettelt worden, die arische Nation zu vernichten. Deshalb schwiegen sie.

Diese Juden waren ein oder zwei Generationen vorher nach Amerika gekommen. Die Opfer des Holocaust waren ihre nächsten Verwandten. Das schlechte Gewissen wegen ihrer Untätigkeit während des Holocausts verfolgt besonders die älteren unter ihnen bis auf den heutigen Tag.

Ihre blinde Loyalität gegenüber dem "jüdischen Staat" ist eine Folge dieses schlechten Gewissens. Viele amerikanische Juden - besonders die Älteren - fühlen sich mehr mit Israel verbunden als mit den USA. Der britische Slogan: My country, right or wrong (Recht oder Unrecht, ich stehe zu meinem Vaterland), wird von ihnen für Israel angewandt.

Eben diese Menschen waren anlässlich von Trumps AIPAC-Massentreffen das Publikum.


AIPAC (American Israel Public Affairs Commitee) ist die Verkörperung der jüdischen Macht und der jüdischen Komplexe.

In gewisser Weise ist es eine späte Verwirklichung der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion, dieser russischen Fälschung, die davon handelt, dass die Juden die Welt regierten. Nach vielen Berichten ist AIPAC die zweitmächtigste Lobby in den USA (nach der Lobby der Waffennarren).

Wie konnte eine noch vor etwa 60 Jahren kleine politische Organisation zu einer derartig schwindelnde Höhe aufsteigen? Die Juden sind bei weitem nicht die größte ethnische Gemeinschaft in den USA. Aber als Folge der ihnen innewohnenden Angst vor Antisemitismus halten sie zusammen. Und was weit wichtiger ist, sie spenden Geld. Eine Menge Geld. In beiderlei Hinsicht übertreffen sie sehr viel größere Gemeinschaften, wie die arabische zum Beispiel.

Der amerikanische politische Prozess, der einmal Gegenstand des Neides aller Demokraten der Welt war, ist jetzt im Kern korrupt. Politische Werbung ist nötig und teuer. Jeder der nach einem Amt schielt, benötigt eine Menge Geld. Nach Geld Ausschau zu halten, ist jetzt der Hauptberuf eines amerikanischen Politikers.

Im heutigen Amerika kann fast jeder Politiker gekauft werden. Buchstäblich. Auch ganze Partei-Organisationen. Die Summen sind nicht einmal besonders eindrucksvoll. AIPAC hat diese Korruption auf die Spitze getrieben.

Um seine Macht zu demonstrieren, hat AIPAC einige eklatante Beispiele hervorgebracht: Es begnügt sich nicht damit, den Politikern, die Israel in irgendeiner Weise kritisiert habe, Geld zu verweigern. Es setzt auch der politischen Karriere von Kritikern aktiv ein Ende, indem es zu konkurrierenden Niemands greift, sie mit Geld ausstaffiert und damit bewirkt, dass sie anstelle der Israel-Kritiker gewählt werden.

Wenn es so etwas wie einen politischen Terrorismus gäbe, würde AIPAC darin die erste Stelle einnehmen.



WOFÜR WIRD diese immense Macht eingesetzt?

Der israelische Journalist Gideon Levy schrieb in dieser Woche einen Artikel, der viele schockiert hat. Darin behauptet er, dass AIPAC in Wahrheit eine antiisraelische Organisation sei. Wenn ich den Artikel geschrieben hätte, wäre er sogar noch extremer ausgefallen.

Falls der Staat Israel die nächsten hundert Jahre nicht überleben wird - Gott möge es verhüten -, werden Historiker den von AIPAC gesteuerten Juden eine Menge Schuld zuweisen.

Seit 1967 steht Israel einer einfachen, aber schicksalhaften Entscheidung gegenüber: Die besetzten palästinensischen Gebiete aufgeben und mit Palästina und der gesamten arabischen und muslimischen Welt Frieden schließen oder an den Gebieten festhalten, dort Siedlungen errichten und einen endlosen Krieg führen.

Dies ist keine politische Meinung. Es ist eine historische Tatsache.

Jeder wahre Freund Israels wird alles Erdenkliche tun, um Israel in die erste Richtung zu drängen. Jeder Dollar, jede Unce politischen Einflusses sollte für diesen Zweck genutzt werden. Am Ende werden die beiden Staaten Israel und Palästina Seite an Seite miteinander leben, vielleicht in einer Art von Konföderation.

Ein Antisemit stößt Israel in die andere Richtung. Innerhalb der nächsten hundert Jahre wird sich Israel in einen bigotten, nationalistischen, ja faschistischen, isolierten Apartheid-Staat mit einer wachsenden arabischen Mehrheit verwandeln, und das ganze Land wird schließlich zu einem arabischen Staat mit einer schrumpfenden jüdischen Minderheit.

Alles andere ist Fantasterei.



WAS ALSO tut AIPAC?

In seinem monumentalen Werk "Faust" beschreibt Goethe den Teufel Mephisto als eine Kraft, die immer das Böse will und stets das Gute erreicht. AIPAC ist genau das Gegenteil.

Es unterstützt die schlimmsten Elemente in Israel und stößt den "Jüdischen Staat" auf dem Weg in die nächste riesige Katastrophe der jüdischen Geschichte mit Macht vorwärts.

AIPAC hat natürlich eine Entschuldigung. Die Israelis selbst hätten diesen Kurs gewählt. AIPAC unterstütze einfach jeden, den die Israelis in demokratischen Wahlen gewählt hätten. Israel sei die einzige Demokratie im Nahen Osten.

Quatsch. AIPAC und seine Schwestergruppen sind tief verwickelt in die Wahlen in Israel. Sie unterstützen den extrem rechten Ministerpräsidenten Benyamin Netanjahu und das ganze ultra-rechte Spektrum der israelischen Parteien.

Vielleicht sollte ich der gesamten amerikanischen Judenschaft die Schuld geben. Es ist nicht nur AIPAC, sondern es sind auch Millionen andere Juden. Sie alle unterstützen Israel, komme, was wolle.

Aber das stimmt vielleicht nicht ganz. Man hat mir erzählt, dass eine neue Generation von Juden in Amerika Israel ganz und gar den Rücken kehrt und sogar die unterstützt, die Israel hassen. Das wäre schade. Sie könnten stattdessen eine Rolle dabei spielen, das Friedenslager in Israel wiederzuerwecken, sie könnten ihren Teil zu einem aufgeklärten Israel beitragen und dazu, dass die alten jüdischen Werte Frieden und Gerechtigkeit aufrechterhalten werden.

Dafür kann ich keine Anzeichen erkennen. Was ich sehe, sind junge progressive amerikanische Juden, die still von der Bühne verschwinden und diese dem neuen amerikanischen Mussolini und seinen im Freudentaumel schreienden, auf- und abspringenden Juden überlassen.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 26.03.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. März 2016

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