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STANDPUNKT/480: Sheldons Handlanger (Uri Avnery)


Sheldons Handlanger

von Uri Avnery, 25. Juli 2015


IM JAPAN der guten alten Zeiten hätte Benjamin Netanjahu jetzt Harakiri begangen.

Im England jener Zeiten hätte der König ihn als Gouverneur zur entferntesten Insel im Pazifischen Ozean gesandt.

In Israel steigt seine Popularität immer mehr.

Weil in unserem Land das alte Sprichwort 'Nichts ist erfolgreicher als das Scheitern' eine neue Bedeutung erhält.



UND WAS für ein Scheitern! WOW!!!

Netanjahu hat dem Präsidenten der USA, dem Führer der freien Welt, dem obersten Beschützer des Jüdischen Staates, praktisch den Krieg erklärt.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte man das für unmöglich gehalten. Aber bei Benjamin Netanjahu ist nichts unmöglich.

Für jemanden, der gerade vom Planeten Mars zu einem Besuch auf die Erde kommt, folgt hier eine kurze Liste der Abhängigkeiten Israels von den USA: Israel bekommt von den USA den Großteil seiner schweren Waffen und muss sie nicht einmal bezahlen, es kann sich darauf verlassen, dass die USA ihr Veto einlegen gegen alle Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die Israels Taten und Untaten verurteilen; Israel erhält jedes Jahr von den USA Milliarden Dollar, obwohl die israelische Wirtschaft blüht.

Da gibt es noch einen Vorteil, der oft übersehen wird. Da die Welt glaubt, beide Häuser des US-Kongresses seien Israel unterwürfig, bezahlen alle Länder Israel dafür, dass es ihnen Zugang zum Kongress verschafft. Man muss den Türhüter bestechen, um in ein verschlossenes Haus hineinzugelangen.

Wenn ein israelischer Ministerpräsident mit dem Präsidenten der USA einen Streit beginnt, sieht das wie reiner Wahnsinn aus - und tatsächlich ist es das auch.

Doch Netanjahu ist nicht geistesgestört, obwohl seine Handlungsweise diesen Gedanken nahelegt. Er ist nicht einmal ein Narr.

Was zum Teufel denkt er sich bei dem, was er tut?


DAFÜR GIBT es mehrere mögliche Erklärungen, die mir einfallen.

Die eine ist: Er will der israelischen Öffentlichkeit gefallen. Weit davon entfernt, dass ein neuer Jude geschaffen worden wäre, wie der Zionismus versprochen hatte, herrscht der alte Jude in Israel. Der alte Jude glaubt, dass die ganze Welt antisemitisch sei und jeder neue Hinweis darauf erfüllt ihn mit Genugtuung. Siehst du? Die Gojim haben sich überhaupt nicht verändert.

Netanjahus Popularität wächst mit jeder neuen Manifestation ausländischer Feindseligkeit. Wenn selbst die Amerikaner, die so lange vorgaben, ein Freund Israels zu sein, uns an die antisemitischen Iraner verkaufen, dann brauchen wir einen starken und standhaften Führer. Kurz gesagt - Netanjahu.

Eine andere plausible Erklärung für Netanjahus Verhalten mag seine tatsächliche Überzeugung sein, dass es kein US-Senator oder Abgeordneter jemals wagen würde, sich den Befehlen von AIPAC zu widersetzen, weil er weiß, dies würde das Ende seiner (oder ihrer) politischen Karriere sein. Wie die größten Antisemiten glaubt Netanjahu, dass die Juden die Welt oder wenigstens den US-Kongress beherrschen. Im entscheidenden Augenblick wird der Kongress für AIPAC und gegen den US-Präsidenten stimmen.

Eine andere Erklärung könnte paradoxerweise der blinde Glaube an Präsident Obamas Integrität sein. Netanjahu denkt, dass er ihn auf den Kopf schlagen, ihm ins Gesicht spucken und in den Hintern treten kann - und Obama würde cool, ja, vernünftig reagieren und Israel weiter unterstützen - mit Ausnahme des Iran-Abkommens. Er wird weiter Waffen und Dollars senden, die Resolutionen des Sicherheitsrates mit einem Veto belegen und mitten in der Nacht Telefonanrufe aus Israel entgegennehmen.

Man weiß doch, wie diese Amerikaner sind. Unterwürfig. Besonders die schwarzen.


ABER DA kann es noch eine andere Erklärung geben, die alle anderen in den Schatten stellt.

Den US-Präsidenten, seine Regierung und seine Partei zu beleidigen, bedeutet, dass Netanjahu mit unserer Zukunft spielt. Dies führt uns zum Weltherrscher des Glücksspiels, dem König von Las Vegas, dem Fürst von Macao, zu Sheldon Adelson.

Adelson macht keinen Hehl aus seiner Unterstützung des Mannes Netanjahu, von dessen Familie und dessen Partei. Er gibt große Geldsummen für eine hebräische Tageszeitung aus, die an Israelis - ob sie es wollen oder nicht - gratis verteilt wird. Sie ist jetzt die größte Zeitung in Israel und Netanjahu und seiner Frau persönlich gewidmet. Einen anderen Zweck hat sie nicht.

Doch Sheldon Adelson scheint kein wirkliches Interesse an Israel zu haben. Er lebt nicht hier, auch nicht zeitweilig. Was bekommt er also dafür?

Adelson hat Netanjahu aus einem einzigen Grund gekauft: um einen seiner Strohmänner im Weißen Haus zu platzieren. Das ist ein Ziel, von dem ein anderer Multi-Milliardär nicht einmal träumen kann.

Um dieses Ziel zu erreichen, muss Adelson die Republikanische Partei als Leiter benutzen. Er muss ihren Kandidaten für die Präsidentschaft auswählen, Hillary Clinton besiegen und die Wahlen gewinnen. Um bei all diesen Aufgaben Erfolg zu haben, muss er die gewaltige Macht der pro-Israel-Lobby über den US-Kongress mobilisieren und Präsident Obama fertig machen.

Der erste Schritt auf diesem langen Marsch ist es, das Iran-Abkommen zu vereiteln. Netanjahu ist nur gerade ein Zahnrädchen in diesem großen Entwurf. Aber ein sehr wichtiges Zahnrädchen.

Sieht das nicht wie eine Karikatur im berüchtigten antisemitischen Nazi-Schundblatt 'Der Stürmer' aus oder schlimmer: wie eine Seite aus der bekannten antisemitischen Fälschung 'Die Protokolle der Weisen von Zion?' Es ist das klassische antisemitische Bild: der hässliche, nach der Weltherrschaft strebende Finanzjude.

Einen Israeli stößt dieses Bild ab. Die zionistische Vision wurde aus der totalen Ablehnung dieser Karikatur geboren. Juden würden den Aktienhandel und den Geldverleih aufgeben. Juden würden im Schweiße ihres Angesichts das Land pflügen, produktive Handarbeit leisten, alle Arten parasitärer Spekulationen zurückweisen. Dies wurde damals als solch hohes Ideal angesehen, dass es sogar die Vertreibung der einheimischen arabischen Bevölkerung rechtfertigte.

Und hier sind wir nun: ein Staat, der den Befehlen eines internationalen Kasino-Moguls folgt, dessen Beschäftigung vielleicht die unproduktivste im Kosmos ist. Traurig.


GIBT ES eine tapfere Opposition gegen diesen Kurs in Israel? Nein, buchstäblich keine.

In meinem langen Leben in Israel habe ich niemals etwas gesehen, das einem vollständigen Mangel an Opposition so nahekommt, wie wir es heute erleben.

Wenige Stimmen in Haaretz, einige einsame Äußerungen vom extremen linken Rand - und das war es dann schon.

Abgesehen davon (Gush Shalom eingeschlossen) gibt es nichts als donnernden Applaus für Netanjahu oder schreckliche Friedhofsruhe.

Das Abkommen ist "schlecht". Nein, nicht nur schlecht, sondern "katastrophal". Nicht nur katastrophal, sondern "eines der schrecklichsten Desaster in der ganzen Geschichte des jüdischen Volkes". Etwas das einem "Zweiten Holocaust" nahe kommt. (Ich hab dies nicht erfunden.)

Netanjahus dürftige Argumente werden als heilige Wahrheiten aufgenommen - wie die Äußerungen anderer großer jüdischer Propheten. Keiner bemüht sich, die notwendige Frage zu stellen: Warum?

Die Sonne geht am Morgen auf. Die Flüsse münden ins Meer. Der Iran wird eine Atombombe bauen und sie über uns abwerfen, auch wenn er sich dadurch eine historische Katastrophe einhandelt. Die Mullahs sind Nazis. Das Abkommen ist ein weiteres Münchner Abkommen. Obama ist ein neuer Neville Chamberlain, nur schwarz.

Keiner macht sich die Mühe, diese Behauptungen nachzuprüfen. Die Dinge sind so selbstverständlich. Der Tag ist Tag - die Nacht ist Nacht.


ICH HABE in meinem Leben viele Situationen erlebt, in denen die öffentliche Meinung einhellig war, besonders in Kriegszeiten. Aber in meinem ganzen Leben habe ich nie eine solch totale Einmütigkeit erlebt, ein solch gänzliches Fehlen von Zweifeln und Fragen.

Diese Situation hat durchaus ihre Absurditäten. Zum Beispiel: der oberste Führer im Iran muss sich offenbar mit seinen eigenen Extremisten auseinandersetzen, die ihm vorwerfen, sich dem amerikanischen Satan zu verkaufen. Um sie zu besänftigen, muss er behaupten, der Vertrag sei ein gewaltiger Sieg für die Islamische Republik, er habe die USA (und Israel) in die Knie gezwungen habe. Die riesige Propagandamaschine von Netanjahu nimmt dies auf, zitiert es und verkauft es als absolute Wahrheit. Jeder weiß, dass die Iraner immer lügen, aber dieses Mal sagen sie, wie es ist.

Yair Lapid, der Führer einer zusammengeschrumpften "Zentrums"-Partei, jetzt in der Opposition (die Orthodoxen erlaubten Netanjahu nicht, ihn in die Regierung zu nehmen), denunziert das Abkommen als historische Katastrophe für das jüdische Volk. Er fragt laut, warum wird Netanjahu nicht gezwungen, nach seinem Versagen abzutreten, um dieses Desaster zu verhindern? Umso mehr, als es fähigere Führer gibt, die bereit sind, seinen Platz zu übernehmen und den Kampf zu führen, ein Mann mit Namen Yair Lapid.

Da ist tatsächlich etwas Paradoxes an Netanjahus Situation: Wenn das Abkommen solch ein historisches Desaster ist, "eines der schlimmsten in der jüdischen Geschichte", warum bleibt Netanjahu dann weiterhin im Amt?


UM EINEN Ministerpräsidenten von seinem Amt abzusetzen, bedarf es einer Opposition, die seinen Platz übernimmt. Tatsächlich ist dies die Hauptaufgabe der Opposition.

Nicht bei uns.

Der Führer der Opposition (ein offizieller Titel in Israel) verurteilt das Abkommen in genau so starken Ausdrücken wie Netanjahu selbst. Er hat angeboten, in die USA zu gehen, um beim Kampf dagegen mitzuhelfen. Sein Konkurrent Yair Lapid, der Sohn eines Super-Nationalisten, ist sogar noch extremer als er. Der Führer der dritten Oppositionspartei ist Avigdor Lieberman; verglichen mit ihm, ist Netanjahu ein linker Weichling. Da gibt es natürlich noch eine vierte Oppositionspartei - die Vereinigte Arabische Partei - aber wer hört auf sie?

Man könnte vermuten, dass es angesichts einer derartigen historischen Katastrophe in Israel von Debatten über den Vertrag nur so wimmelte. Aber wie kann man eine Debatte führen, wenn alle einer Meinung sind? Ich habe nicht eine einzige Diskussion im TV gesehen, noch eine in den Zeitungen, noch im Internet. Hier und da ein kleines Flüstern über Zweifel, aber eine Debatte? Nirgendwo!

Tatsächlich kann man in Israel tagelang glücklich leben ohne von dieser historischen Katastrophe irgendetwas zu hören. Der Preis des Hüttenkäses weckt mehr Emotionen.

Also bewegen wir uns glücklich auf das Desaster zu - es sei denn, einer von Sheldons Handlangern betritt mit Bibs Hilfe das Weiße Haus.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 25.07.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2015

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