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STANDPUNKT/472: Kriegsverbrechen? Wir??? (Uri Avnery)


Kriegsverbrechen? Wir???

von Uri Avnery, 27. Juni 2015


"DER KRIEG IST DIE HÖLLE!" rief bekanntermaßen der US-General William Tecumseh Sherman aus, als er während des Bürgerkrieges durch Georgia marschierte.

Im Krieg geht es darum, den "Feind" zu töten, um ihm den eigenen Willen aufzuzwingen.

Darum ist "der humane Krieg" ein Oxymoron.

Der Krieg ist ein Verbrechen. Es gibt wenige Ausnahmen. Ich würde den Krieg gegen Nazi-Deutschland als Ausnahme ansehen, da es gegen ein Regime von Massenmördern geführt wurde, geleitet von einem pathologischen Diktator, der nicht anders zur Strecke gebracht werden konnte.

Da dies so ist, ist der Begriff "Kriegsverbrechen" dubios. Das größte Verbrechen ist es, den Krieg zu beginnen. Das tun nicht die Soldaten, sondern die politischen Führer. Doch diese werden selten angeklagt.


DIESE PHILOSOPHISCHEN Gedanken kamen mir in den Sinn, nachdem ich den neuen UN-Bericht über den letzten Gazakrieg zur Kenntnis genommen hatte.

Das Untersuchungs-Komitee hat sich verzweifelt bemüht, "ausgewogen" zu sein und beschuldigte sowohl die israelische Armee als auch die Hamas mit fast denselben Formulierungen. Allein dies an sich ist schon problematisch.

Das war kein Krieg zwischen Gleichen. Auf der einen Seite der Staat Israel mit einer der mächtigsten Armeen der Welt. Auf der anderen Seite eine staatenlose Bevölkerung von 1,8 Mill. Menschen, geführt von einer Guerilla-Organisation, die über keinerlei moderne Waffen verfügt.

Jede Gleichstellung derartiger Entitäten ist der Definition nach künstlich. Selbst wenn beide Seiten schwere Kriegsverbrechen begingen, ist es nicht dasselbe. Jeder muss nach seinen eigenen (Un-)taten beurteilt werden.


DER BEGRIFF "Kriegsverbrechen" ist relativ neu. Er kam während des 30jährigen Krieges auf, der große Teile Mitteleuropas verwüstete. Viele Armeen nahmen daran teil und alle zerstörten bedenkenlos Städte und Dörfer. Die Folge davon war, dass zwei Drittel Deutschlands verwüstet und ein Drittel des deutschen Volkes getötet worden war.

Der Niederländer Hugo de Groot behauptete, dass zivilisierte Nationen sogar im Krieg an gewisse Grenzen gebunden seien. Er war kein blauäugiger, realitätsferner Idealist. Sein Hauptprinzip - so wie ich es verstanden habe - war die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, Aktionen zu verbieten, die dazu beitragen, dass ein Krieg führendes Land den Krieg gewinnen kann, dass aber jede Grausamkeit, die für die wirksame Durchführung des Krieges unnötig ist, verboten sein soll.

Die Idee setzte sich durch. Während des 18. Jahrhunderts führten Berufsheere unaufhörlich Krieg, ohne dass die Zivilbevölkerungen unnötig geschädigt wurden. Die Kriege wurden "human".

Das hielt nicht lange an. Mit der französischen Revolution wurde der Krieg eine Sache von Massen-Armeen, der Schutz der Zivilisten wurde untergraben, bis er im Zweiten Weltkrieg völlig verschwand, als ganze Städte durch unbegrenzte Luftangriffe (Dresden und Hamburg) und durch die Atombombe (Hiroshima und Nagasaki) zerstört wurden.

Aber trotzdem verbieten einige internationale Konventionen Kriegsverbrechen, die auf Zivilbevölkerungen zielen, oder die die Bevölkerung in besetzten Gebieten schädigen.

Das zu untersuchen war der Auftrag dieses Untersuchungs-Komitees.


DAS KOMITEE beschuldigte die Hamas, Kriegsverbrechen gegen die israelische Bevölkerung begangen zu haben.

Die Israelis brauchten das Komitee nicht, um dies zu erfahren. Ein großer Teil der israelischen Bürger verbrachte während des Gaza-Krieges wegen der Bedrohung durch Hamas-Raketen Stunden im Luftschutzkeller.

Hamas schoss Tausende Raketen auf Dörfer und Städte in Israel ab. Es waren primitive Raketen, die nicht auf spezielle Ziele gelenkt werden konnten - wie z.B. auf die Dimona-Nuklearanlage oder das Verteidigungsministerium, das mitten in Tel Aviv liegt. Sie waren vielmehr dazu gedacht, die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, damit sie fordert, dass der Angriff auf den Gazastreifen eingestellt wird.

Dieses Ziel erreichten sie nicht, weil Israel einige "Eiserne-Kuppel"-Raketenabwehr-Batterien errichtet hatte, die fast alle Raketen, die auf zivile Ziele gerichtet waren, abfingen. Sie hatten fast durchgehend Erfolg.

Wenn sie vor das Internationale Gericht in Den Haag gebracht werden, werden die Hamas-Führer behaupten, dass sie keine andere Wahl hatten: sie hätten keine anderen Waffen, um sich gegen die israelische Invasion zu wehren. Wie mir einmal ein palästinensischer Kommandeur sagte: "Gebt uns Kanonen und Kampfflugzeuge, dann werden wir keinen Terror anwenden".

Der Internationale Gerichtshof wird dann entscheiden müssen, ob es einem Volk, das praktisch unter endloser Besatzung lebt, erlaubt ist, wahllos Raketen einzusetzen. Wenn man die Prinzipien, die von de Groot festgelegt wurden, betrachtet, frage ich mich, zu welcher Entscheidung man kommen wird.

Das gilt für Terrorismus allgemein, falls er von einem unterdrückten Volk ausgeführt wird, das keine anderen Mittel zur Gegenwehr hat. Die schwarzen Südafrikaner benutzten Terrorismus in ihrem Kampf gegen das unterdrückerische Apartheidsystem und Nelson Mandela verbrachte 28 Jahre im Gefängnis, weil er an solchen Taten beteiligt war, und er weigerte sich, sie zu verurteilen.


DER FALL gegen die israelische Regierung und Armee liegt völlig anders. Sie haben eine Unmenge von Waffen: von Drohnen über Kampfflugzeuge bis zu Artillerie und Panzern.

Falls es ein Kardinal-Kriegsverbrechen in diesem Krieg gab, war es die Kabinettentscheidung, ihn zu beginnen. Weil ein israelischer Angriff auf den Gazastreifen Kriegsverbrechen unvermeidbar macht.

Jeder, der jemals ein kämpfender Soldat im Krieg war, weiß, dass Kriegsverbrechen in jeder, ebenso in der moralischsten wie in der gemeinsten Armee der Welt geschehen. Keine Armee kann vermeiden, dass in ihr psychisch kranke Leute sind. In jeder Kompanie gibt es wenigstens ein pathologisches Exemplar. Wenn es da nicht sehr strenge Regeln gibt, die von einem sehr strengen Kommandeur durchgesetzt werden, werden Verbrechen geschehen.

Ein Krieg bringt das Innerste des Mannes (oder heute auch der Frau) zum Vorschein. Ein wohl erzogener, gebildeter Mann wird sich plötzlich in ein wildes Biest verwandeln. Ein einfacher, bescheidener Arbeiter kann sich als anständiger, großzügiger Mensch erweisen. Das ist so, selbst in der "moralischsten Armee der Welt" - ein Oxymoron, falls es jemals so etwas gab.

Ich war im 1948er-Krieg ein Soldat der Infanterie. Ich habe eine Menge Verbrechen gesehen, und ich beschrieb sie in meinem Buch (1950) "Die Kehrseite der Medaille").


DIES GILT für jede Armee. Während des letzten Gaza-Krieges war die Situation in unserer Armee sogar noch schlimmer.

Die Gründe für den Angriff auf den Gazastreifen waren undurchsichtig. Drei israelische Jugendliche wurden von arabischen Männern gefangen genommen, offensichtlich für einen Gefangenenaustausch. Die Araber gerieten in Panik und töteten die Jungs. Die Israelis reagierten, die Palästinenser reagierten und siehe da! - die Regierung beschloss einen regelrechten Krieg.

In unserer Regierung sitzen auch Trottel, von denen die meisten keine Vorstellung davon haben, was Krieg bedeutet. Sie beschlossen, den Gazastreifen anzugreifen.

Diese Entscheidung war das wirkliche Kriegsverbrechen.

Der Gazastreifen ist ein winziges Gebiet, mit 1,8 Millionen Menschen völlig übervölkert; die Hälfte von ihnen Abkömmlinge von Flüchtlingen aus Gebieten, die im 1948er-Krieg israelisch wurden.

Ein derartiger Angriff musste auf jeden Fall zu einer großen Anzahl ziviler Opfer führen. Aber eine andere Sache macht dies sogar noch schlimmer.


ISRAEL IST ein demokratischer Staat. Die Führer müssen vom Volk gewählt werden. Die Wähler bestehen aus den Eltern und Großeltern der Soldaten, die entweder zu regulären oder zu Reserveeinheiten gehören.

Dies bedeutet, dass Israel außerordentlich sensibel auf Todesfälle reagiert. Wenn eine große Anzahl von Soldaten im Einsatz getötet wird, muss die Regierung abtreten.

Deshalb ist es der Grundsatz der israelischen Armee, um jeden Preis Todesfälle zu vermeiden - auf Kosten des Feindes d.h. um einen einzigen israelischen Soldaten zu retten, ist es erlaubt, zehn, zwanzig, hundert Zivilisten der anderen Seite zu töten.

Diese ungeschriebene und selbstverständliche Regel ist in der "Hannibal-Direktive" niedergelegt - sie ist das Schlüsselwort dafür, die Gefangennahme eines israelischen Soldaten um jeden Preis zu verhindern. Auch hier ist ein "demokratisches" Prinzip am Werk: Keine israelische Regierung kann dem öffentlichen Druck standhalten und muss viele Dutzende palästinensischer Gefangener entlassen, um einen einzigen Israeli frei zu bekommen. Also muss man verhindern, dass ein israelischer Soldat gefangengenommen wird, selbst wenn der Soldat selbst dabei getötet wird.

Hannibal gestattet - ja die Direktive befiehlt geradezu - unsagbare Zerstörung und unsagbares Töten zu veranlassen, um zu verhindern, dass ein gefangengenommener Soldat verschwindet. Diese Direktive ist schon an sich ein Kriegsverbrechen.

Eine verantwortliche Regierung mit einem Minimum an Kampferfahrung, würde all das in dem Augenblick wissen, in dem sie dazu aufgerufen ist, sich für eine Militäroperation zu entscheiden. Wenn sie es nicht weiß, ist es die Pflicht der Armeekommandeure, die bei solch einer Kabinett-Sitzung dabei sind, es zu erklären. Ich frage mich, ob sie das taten.


ALL DIES bedeutet, dass, wenn ein Krieg erst einmal angefangen worden ist, die Ergebnisse fast unvermeidlich sind. Um einen Angriff mit so wenig Todesfällen wie möglichen durchzuführen, müssen ganze Stadtteile durch Drohnen, Kampfflugzeuge und Artillerie eingeebnet werden. Und das geschah offensichtlich.

Die Bewohner wurden oft dazu aufgefordert zu fliehen, und viele taten es auch. Andere taten es nicht - nicht bereit, alles, was ihnen teuer und lieb ist, zurückzulassen. Einige Menschen fliehen im Augenblick der Gefahr, andere halten an der Hoffnung fest und bleiben.

Ich möchte den Leser bitten, sich selbst für einen Moment in diese Situation zu versetzen.

Wenn Sie dem das menschliche Element hinzufügen - die Mischung aus menschlichen und sadistischen, guten und bösen Menschen, die man in jeder Kampfeinheit in aller Welt findet - können Sie sich eine Vorstellung machen.

Wenn man erst einmal einen Krieg anfängt, "dann passiert so etwas eben", wie man so sagt. Auch wenn es in einem Krieg mehr und in einem anderen weniger Kriegsverbrechen gibt, werden es in jedem Fall viele sein.


ALL DIES hätten die Führer der israelischen Armee dem UN-Untersuchungsausschuss, dessen Vorsitzende eine amerikanische Richterin ist, sagen können, wenn sie als Zeugen hätten aussagen dürfen. Die Regierung erlaubte es ihnen nicht.

Der einfachste Weg aus diesem Dilemma ist, zu behaupten, dass alle UN-Mitarbeiter von Natur aus antisemitisch und Israelhasser seien, so dass das Beantworten ihrer Fragen kontraproduktiv sei.

Wir sind moralisch. Wir haben Recht. Von Natur aus. Wir können nicht anders. Diejenigen, die uns anklagen, müssen Antisemiten sein. Ganz logisch.

Zur Hölle mit ihnen allen!



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 27.06.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juni 2015

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