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STANDPUNKT/357: Eine Gegen-Koalition (Uri Avnery)


Eine Gegen-Koalition

von Uri Avnery, 15.3.2014



ETWAS SEHR Bedeutendes geschah in dieser Woche an einem für etwas Wichtiges unwahrscheinlichsten Ort: in der Knesset.

Auf der Tagesordnung standen drei Gesetze, eines schlimmer als das andere.

Das eine betraf die "Regierungsgewalt". Hauptsächlich ging es um die Erhöhung der "Prozent-Hürde" - d.h. das Minimum, das eine Wahlliste benötigt, um in die Knesset zu kommen - von 2% bis 3,25%. Die klare Absicht ist, die drei Listen, die ihre Stimmen aus dem arabischen Sektor erhalten und die etwa diese Prozentzahl oder weniger haben, abzuhängen.

Im zweiten Gesetz ging es um "die gleichmäßige Verteilung der Last". Sein erklärtes Ziel ist, Tausende orthodoxer Jugendlicher zum Militärdienst zu zwingen, von dem sie jetzt befreit sind. In der Praxis befreit das neue Gesetz sie für vier weitere Jahre. Israelis nennen dies "Israbluff".

Das dritte Gesetz geht um Frieden oder sein Nicht-vorhanden-sein. Es besagt, dass jede Vereinbarung, die die Aufgabe eines Gebietes beinhaltet, das zurzeit von Israel kontrolliert wird, durch ein Referendum bestätigt werden muss. Bis jetzt ist in Israel ein Referendum unbekannt gewesen. Dieses Gesetz würde selbst bei noch so kleinem Landtausch angewandt werden.

Welche Verbindung gibt es zwischen diesen drei Gesetzesvorlagen? Keine - außer, dass sie auf Papier gedruckt wurden. Doch jede von ihnen wird von mindestens einer der sechs Fraktionen, die die Regierung unterstützen, abgelehnt, was ihre Annahme unmöglich macht.

Damit sie alle angenommen werden, hat die Regierungskoalition all ihren Mitgliedern eine drakonische Maßnahme aufgezwungen: Sie müssen für alle drei zusammen abstimmen. Eins nach dem andern.

Dies hat sich nie zuvor ereignet. Es ist ein weiteres Symptom für die sich immer weiter ausbreitende Unverfrorenheit des rechten Flügels, die ein Kennzeichen dieser Knesset ist.


UM SICH selbst zu verteidigen, haben die Oppositionsparteien etwas getan, was vorher in Israel noch nie geschah: sie haben dem Knesset-Plenum den Boykott erklärt. Nicht ein einziges Oppositions-Mitglied war während der Debatte über diese Gesetzesentwürfe und ihre Abstimmung im Plenum. Sie errichteten ein "alternatives Plenum", wo sie eine lebhafte Debatte führten.

Die Opposition besteht aus verschiedenen Elementen, die gewöhnlich nicht zusammenarbeiten.

Da gibt es die linken zionistischen Parteien: Die Laborpartei und Meretz.

Es gibt die beiden orthodox-religiösen Fraktionen: Die Torah-Jüdische Fraktion (aus zwei getrennten Parteien) und die orientalisch-orthodoxe Partei, die Shas.

Und da gibt es noch die drei arabischen Parteien: die nationalistische Balad-Partei, die moderate islamische und die kommunistische Partei, in der auch eine kleine jüdische Gruppe ist.

All diese verschiedenen politischen Gruppierungen kamen zusammen, um ihre Empörung über die diktatorischen Maßnahmen des rechten Flügels auszudrücken. Ihr beispielloser Boykott der Knesset-Abstimmung unterstreicht die Ernsthaftigkeit der parlamentarischen Krise, obwohl er nicht die Annahme der Gesetze verhinderte.

Die Aufregung der Medien über die Krise verbarg jedoch einen viel ernsteren Aspekt, einen, der eine fundamentale Auswirkung auf die Zukunft Israels haben kann.


ALLE DREI israelischen Fernsehkanäle widmeten dem, was sich im Knesset-Plenum ereignete, nur ein paar Minuten, sie konzentrierten sich viel mehr auf die interessanteren Geschehnisse im Kontra-Plenum.

Sie zeigten z.B. den Führer von Shas, Ariyeh Deri, wie er mit seinem Kopf den Kopf des prominenten Laborabgeordneten Eitan Kabel berührte. Dies war mehr als eine brüderliche Geste. Es war eine politische Erklärung.

Seit dem ersten Tag des Staates Israels, während 29 Jahren, wurde das Land von der Laborpartei regiert - in enger Zusammenarbeit mit den religiösen jüdischen Parteien. (Vorher hatte dieselbe Koalition seit 1933 die jüdische Gemeinschaft in Palästina "regiert".)

Der historische Wandel, 1977, der die Likud an die Macht brachte, geschah, als die religiösen Parteien der Labor-Partei den Rücken kehrten und sich der neuen rechten Koalition von Menachem Begin anschlossen. Dies war mehr als ein politisches Manöver. Es war eine tektonische Verschiebung, die die Landschaft Israels veränderte.

Seit damals regiert die rechts-religiöse Koalition Israel (Wenn man von kleinen Unterbrechungen absieht.) Sie schien unerschütterlich zu sein und verurteilte Israel zu einer dunklen Zukunft der Apartheid, Besatzung und der Siedlungen.

Es schien auch ganz natürlich. Die jüdische Religion versichert, dass Gott persönlich den Israeliten das ganze Heilige Land verheißen hat. Religiöse Schulen lehren nur jüdisch-zentrierte Anschauungen, die die Rechte anderer ignorieren. Die Produkte dieser Ausbildung scheinen die natürlichen Verbündeten der Likud-Ideologie vom Gesamt-Eretz-Israel zu sein.

Die Ereignisse dieser Woche zeigen, dass das nicht unbedingt so sein muss. Die orthodoxen Antizionisten können den säkularen Zionisten die Hand reichen und - es ist kaum zu glauben - auch den Arabern.

Das lenkt den Blick auf die grundlegende Spaltung zwischen den Orthodoxen, deren Judentum die alte Religion des Stetl ist, und den zionistischen "Nationalreligiösen", deren Judentum eine stammesmäßige Mischung von "Blut und Boden" ist. Für die Orthodoxen ist das Judentum nicht der Feind des Friedens. Im Gegenteil: Shalom und die gute Behandlung von nicht-jüdischen Einwohnern sind Gebote Gottes.

Falls diese Idylle zwischen dem säkular-orthodox-arabischen Dreieck hält, könnte sie der Vorläufer einer neuen politischen Wende sein, das Ende der Ära, die 1977 begann.


UM ZU VERSTEHEN, was gerade geschieht, muss man die Bedeutung von "Verstehen" verstehen; d.h. andere verstehen.

Die orthodoxe Gemeinschaft ist ein eigenständiger Bereich Israels, ganz ähnlich wie der arabische Bereich und vielleicht sogar noch eigenständiger. Sie sind anders als der Mainstream Israels in fast allem - die kulturellen Ansichten, die historische Orientierung, die Sprache (viele sprechen jiddisch), die Kleidung, ja sogar die Körpersprache. Sie entsprechen ungefähr den Amischen in den USA, allerdings machen sie 15% der Bevölkerung aus.

Die gegenwärtige Krise wird nicht von ihrer Antipathie gegen die Armee und die ganze zionistische Ideologie verursacht. Es geht viel tiefer. Ihr Hauptziel ist das Überleben in einer zunehmend feindseligen Welt. Sie müssen absolute Kontrolle über ihre Söhne und Töchter haben - von der Geburt bis zum Tod. Sie erlauben ihnen nicht, in Kontakt mit Nicht-Orthodoxen zu kommen - in keinem Stadium ihres Lebens. Deshalb kann es ihnen nicht erlaubt werden, normale Schulen zu besuchen, in die Armee zu gehen, an gewöhnlichen Arbeitsplätzen zu arbeiten, in säkularen Stadtteilen zu leben. Sie dürfen nicht in nicht-orthodoxer Gesellschaft essen oder - Gott bewahre - säkulare Mädchen treffen. Totale Isolierung ist ihr Überlebensrezept.

Israelis vom rechten Flügel mit ihren engstirnigen und egozentrischen Ansichten sind völlig unfähig, dies zu verstehen, so wie sie nicht in der Lage sind, die Denkweise der arabischen Bürger zu verstehen. Um Gottes willen! Warum sollte eine israelische jüdische Mutter schlaflose Nächte mit der Sorge um ihren Sohn, der Soldat ist, verbringen, während diese Drückeberger ihr Leben genießen?

Für einen orthodoxen Jungen ist es natürlich undenkbar, mit dem Talmudstudium aufzuhören, wie es für einen arabischen Jungen undenkbar ist, auf palästinensische Brüder zu schießen.

Die Armeechefs wollen übrigens keinen von beiden. Sie schaudern bei dem Gedanken arabische junge Männer - mit Ausnahme von ein paar beduinischen Söldnern - zu trainieren und zu bewaffnen. Es schaudert sie bei dem Gedanken, Tausende von Orthodoxen in die Armee aufzunehmen, die getrennte Lager brauchen, um nicht in Kontakt - nicht einmal in Augenkontakt - mit Mädchen zu kommen. Ganz zu schweigen von der Notwendigkeit von Synagogen, rituellen Bädern, spezieller koscherer Nahrung und eigener Rabbiner, die jeden Befehl eines normalen Offiziers ins Gegenteil wenden könnten.

Doch kein Armeeoffizier wird dies offen sagen. Die alte zionistische Vision verbietet dies. Unsere Armee ist eine Bürgerarmee, jeder dient darin ohne Diskriminierung; bei der Verteidigung des Heimatlandes ist Gleichheit heilig.

Deshalb bedient man sich seit Jahrzehnten komplizierter legaler Tricks der Selbsttäuschung. Jetzt muss sich das Land damit aus einander setzen.

Meiner Meinung nach sollten wir der Realität ins Auge schauen: Die Orthodoxen (und die arabischen Bürger) sind besondere Minderheiten, die auch einen Sonderstatus benötigen. Die augenblickliche Situation sollte legalisiert werden, ohne Tricks. Die Orthodoxen (und die Araber) sollten offiziell eine Ausnahmebehandlung bekommen. Vielleicht sollte unsere Armee den westlichen Vorbildern folgen und eine Berufs-Freiwilligen-Armee werden.


ABER DIES ist ein Seitenaspekt. Die Hauptfragen sind diese:

Kann die alte Verbindung zwischen dem linken Flügel und dem orthodoxen erneuert werden?

Kann es einen fundamentalen Wandel in der Verteilung der politischen Kräfte geben?

Kann die Koalition der Rechten und des "national-religiösen" messianischen Lagers, einschließlich seiner faschistischen Ränder, wieder eine politische Minderheit werden?

Kann eine Gegen-Koalition der Linken und der Orthodoxen (ja, mit den arabischen Bürgern) zur Macht kommen?

Es ist nicht unmöglich, doch müsste man ein Optimist sein, um das zu glauben.

Allerdings man muss ohnehin ein Optimist sein, um an irgendetwas Gutes zu glauben.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 15.03.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. März 2014