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STANDPUNKT/296: Das große Dilemma (Uri Avnery)


Das große Dilemma

von Uri Avnery, 13.7.2013



VIELLEICHT stehen Sie demselben moralischen Dilemma gegenüber wie ich:

Was soll man über Syrien denken?

Was soll man über Ägypten denken?

NEHMEN WIR zuerst Syrien.

Als es anfing, war die Wahl für mich klar. Da gab es diesen üblen Diktator, dessen Familie sein Volk seit Jahrzehnten misshandelt hatte. Es war eine Tyrannei mit faschistischen Untertönen. Eine kleine Minderheit, die sich auf eine kleine religiöse Sekte gründete, unterdrückte die Mehrheit. Die Gefängnisse waren voll von politischen Dissidenten.

Endlich stand das seit langem leidende Volk auf. Konnte es da irgendeinen Zweifel über die moralische Verpflichtung geben, ihnen jede mögliche Unterstützung zukommen zu lassen?

Doch zwei Jahre später bin ich voller Zweifel. Es gibt keine klare Wahl mehr zwischen schwarz und weiß, sondern zwischen verschiedenen Grautönen oder, wenn es möglich wäre, zwischen verschiedenen Schwarztönen.

Ein Bürgerkrieg wütet. Das Elend der Bevölkerung ist unbeschreiblich. Die Zahl der Toten erschreckend.

Wer soll unterstützt werden? Ich beneide diejenigen, die einen einfachen Maßstab anlegen: die bösen Amerikaner. Wenn die USA die eine Seite unterstützt, dann ist diese Seite sicher falsch. Oder das Spiegelbild: Wenn Russland die andere Seite unterstützt, dann muss diese Seite böse sein.

Großmächte haben ihre Interessen und intervenieren entsprechend. Aber die Wurzeln des Konfliktes liegen tiefer, und die Probleme sind viel komplizierter.


WAS WIRD geschehen, wenn die Regierungskräfte die Schlacht verlieren und die Rebellen gewinnen?

Da die Rebellen aus verschiedenen gegenseitig feindlich gesinnten politischen und militärischen Kräften bestehen und unfähig sind, ein gemeinsames Kommando aufzustellen, geschweige denn eine gemeinsame politische Bewegung zu bilden, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie in der Lage sein würden, eine gemeinsame, echt demokratische neue Ordnung zu schaffen.

Es gibt mehrere Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten, keine davon ist attraktiv.

Der syrische Staat kann in jeweils religiöse und nationale Gemeinschaften auseinanderbrechen, die für sich einen eigenen Ministaat bilden. Die Sunniten. Die Alawiten. Die Kurden. Die Drusen.

Die Erfahrung lehrt, dass solche Teilungen fast immer mit Massenvertreibungen und Massakern verbunden sind, da jede Gemeinschaft versucht, ihre Errungenschaften ethnisch zu "säubern". Indien-Pakistan, Israel-Palästina, Bosnien, Kosovo, um nur einige herausragende Beispiele zu nennen.

Eine andere Möglichkeit wäre eine Art formeller Demokratie, in der die extremen sunnitischen Islamisten unter internationaler Aufsicht faire und redliche Wahlen gewinnen und dann ein unterdrückerisches, religiös-monolithisches Regime errichten würden.

Solch ein Regime würde wahrscheinlich einige der wenigen positiven Aspekte der baathistischen Herrschaft zurückwerfen, wie z. B. die (relative) Gleichheit der Frauen.

Falls dort Chaos und Unsicherheit weiter gehen, werden entweder die Reste der Armee oder die Rebellen versucht sein, eine Art offene oder verdeckte Militärherrschaft zu errichten.


WIE WIRKT dies alles auf die gegenwärtigen Wahlmöglichkeiten? Beide, die Amerikaner wie die Russen scheinen zu zögern. Offensichtlich wissen sie nicht, wie sie sich verhalten sollen.

Die Amerikaner klammern sich an ihr magisches Wort "Demokratie", in kühnen Buchstaben geschrieben, selbst wenn es nur eine formelle Demokratie ist, ohne wirklichen demokratischen Inhalt. Aber sie sind zutiefst erschrocken, wenn noch ein Land auf "demokratische" Weise in die Hände von extrem anti-amerikanischen Islamisten fällt.

Die Russen stehen sogar einem noch ernsteren Dilemma gegenüber. Das baathistische Syrien war seit Generationen ihr Verbündeter. Ihre Flotte hat in Tarsus eine Basis (für mich hat das Wort Flottenbasis einen Geruch aus dem 19. Jahrhundert.) Aber sie müssen große Angst davor haben, dass der islamische Fanatismus ihre in der Nähe liegenden muslimischen Provinzen ansteckt.

Und die Israelis? Unsere Regierung und die Sicherheitsleute sind sogar noch verwirrter. Sie bombardieren Waffenarsenale, die in die Hände der Hisbollah fallen könnten. Sie ziehen den Teufel, den sie kennen, den vielen Teufeln, die sie nicht kennen, vor. Im Ganzen gesehen, wünschen sie, dass Bashar Assad bleibt - fürchten sich aber zu intervenieren.

In der Zwischenzeit eilen Unterstützer beider Seiten aus allen Ecken der muslimischen Welt und darüber hinaus zum Schauplatz.

Zusammengefasst: eine Art Fatalismus schwebt über dem Land; jeder wartet darauf, was auf dem Schlachtfeld geschieht.



DER FALL Ägypten ist sogar noch verworrener.

Wer hat Recht? Wer hat Unrecht? Wer verdient meine moralische Unterstützung?

Auf der einen Seite ist ein demokratisch gewählter Präsident und seine religiöse Partei durch die Macht eines Militärputsches gestürzt worden.

Auf der andern Seite sind die jungen, progressiven, säkularen Leute in den Städten, die mit der Revolution begannen und nun das Gefühl haben, dass diese ihnen "gestohlen" wurde.

Und noch eine Seite: die Armee, die mehr oder weniger seit dem Coup gegen den fetten König Faruk 1952 an der Macht ist, und die ungern ihre immensen politischen und wirtschaftlichen Privilegien verliert.

Wer sind die wahren Demokraten? Die gewählten Muslimbrüder, deren wahrer Charakter undemokratisch ist? Die Revolutionäre, die glücklich sind, einen Militärputsch ausnützen zu können, um die Demokratie zu bekommen, die sie wünschen? Die Armee, die auf die Demonstranten das Feuer eröffnet?

Nun, das hängt davon ab, was man unter Demokratie versteht.

In meiner Kindheit war ich Augenzeuge des demokratischen Aufstiegs der Nazi-Partei, die öffentlich erklärte, dass sie nach ihrer Wahl die Demokratie abschaffen werde. In der Tat war Hitler so von der Idee besessen, die Macht mit demokratischen Mitteln zu erhalten, dass seine Gegner innerhalb seiner eigenen Partei ihn aus Spaß "Adolf den Rechtmäßigen" nannten.

Es ist fast banal, festzustellen, dass Demokratie eine Menge mehr bedeutet als Wahlen und die Herrschaft der Mehrheit. Sie gründet sich auf eine ganze Reihe von Werten - praktischen Dingen wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit, bürgerliche Gleichheit, Liberalismus, Toleranz, Fairplay, die Fähigkeit einer Minderheit, die nächste Mehrheit zu werden, und vieles mehr.

In einer Weise ist die Demokratie ein platonisches Ideal - kein Land der Welt ist eine perfekte Demokratie (ganz sicher nicht mein eigenes). Eine demokratische Verfassung bedeutet nicht viel - es wurde einmal gesagt, dass die Sowjetverfassung von 1936, von Stalin erlassen, die demokratischste in der Welt sei. Zum Beispiel sicherte sie jedem Teil der Sowjetunion zu, sich abzuspalten (Aber irgendwie hat das keiner versucht).


ALS MUHAMMAD MURSI der demokratisch gewählte Präsident von Ägypten wurde, war ich froh. Ich mochte den Kerl. Ich hoffte, er würde beweisen, dass ein moderater, moderner Islamismus eine demokratische Macht werden könnte. Anscheinend habe ich mich getäuscht.

Keine Religion - und sicher keine monotheistische Religion - kann wirklich demokratisch sein. Für sie gibt es nur eine absolute Wahrheit und sie leugnet alle anderen. In der westlichen Religion wird dies durch Arbeitsteilung zwischen Gott und Caesar abgemildert und in modernen Zeiten durch die Reduzierung des Christentums auf einen dezenten Kult. Die amerikanischen Evangelikalen versuchen, die Uhr zurück zu drehen.

In den semitischen Religionen kann es keine Teilung zwischen Religion und Staat geben. Das Judentum und der Islam gründen den Staat auf religiöses Gesetz (Halakha bzw. Sharia)

Der säkularen Mehrheit in Israel ist es bis jetzt gelungen, eine vernünftig funktionierende Demokratie aufrecht zu erhalten (d.h. im eigentlichen Israel, gewiss nicht in den besetzten palästinensischen Gebieten.) Zionismus war, wenigstens teilweise, eine religiöse Reformation. Aber es gibt in Israel keine Trennung zwischen Staat und Synagoge. Alle Gesetze, den persönlichen Status betreffend, sind rein religiös, und auch viele andere Gesetze. Elemente vom rechten Flügel werben für die Judaisierung des Staates.

Im Islam gab es keine Reformation. Fromme Muslime und ihre Parteien wollen, dass das Gesetz (des Staates) sich auf der Sharia gründet (tatsächlich bedeutet Sharia "Gesetz") Das Beispiel von Mursi mag zeigen, dass selbst ein moderater islamischer Führer nicht dem Druck widerstehen kann, ein auf der Sharia gegründetes Regime zu schaffen.

Die Revolutionäre scheinen demokratischer zu sein, aber weniger effektiv. Die Demokratie verlangt die Bildung von politischen Parteien, die durch Wahlen zur Macht kommen. Die jungen säkularen Idealisten in Ägypten - und in fast allen anderen Ländern - sind nicht in der Lage gewesen, dies zu tun. Sie warteten auf die Armee, damit diese die Demokratie für sie errichten solle.

Dies ist natürlich ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Die Armee, jede Armee ist das genaue Gegenteil von Demokratie. Eine Armee ist notwendigerweise eine autoritäre und hierarchische Organisation. Ein Soldat vom Feldwebel bis zum Oberkommandeur ist trainiert, zu gehorchen und zu befehlen. Kaum eine gute Erziehungsstätte für demokratische Tugenden.

Eine Armee kann natürlich einer demokratischen Regierung gehorchen. Aber eine Armee kann keine Regierung führen. Fast alle militärischen Diktaturen sind weithin inkompetent gewesen. Schließlich ist ein Militäroffizier ein Experte in einem Beruf (Menschen zu töten - würde ein Zyniker sagen). Er ist kein Experte in irgendetwas anderem.

Im Gegensatz zu Syrien hat Ägypten ein starkes Gefühl für Zusammenhalt und Einigkeit, eine Loyalität gegenüber einer gemeinsamen Idee von Ägypten, die während Tausenden von Jahren geschmiedet wurde. Bis letzte Woche, als die Armee das Feuer auf die Islamisten eröffnete. Dies kann ein historischer Wendepunkt sein. Ich hoffe es nicht.

Ich hoffe, dass der Schock dieses Ereignisses alle Ägypter, natürlich mit Ausnahme der Verrückten auf allen Seiten, zum gesunden Menschenverstand zurückkehren lässt. Das Beispiel von Syrien und Libanon sollte sie vor dem Abgrund zurückschrecken lassen.


IN HUNDERT Jahren - wenn die meisten von uns nicht mehr sein werden - werden Historiker diese Ereignisse nur als Geburtswehen einer neuen arabischen Welt betrachten wie die Religionskriege im Europa des 17. Jahrhunderts oder wie den amerikanische Bürgerkrieg vor 150 Jahren.

Wie die Araber selbst sagen: Inshallah! So Gott will!


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

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Quelle:
Uri Avnery, 13.07.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2013