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STANDPUNKT/159: Fidel Castro - Neue Kriegsgefahr (jw)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 14. Januar 2012

Neue Kriegsgefahr

Von Fidel Castro (*)


Der Weltfrieden hängt an einem seidenen Faden

Reflexion des Genossen Fidel


Am Mittwoch hatte ich die Freude, mich in aller Ruhe mit Mahmud Ahmadinedschad zu unterhalten. Ich hatte ihn seit September 2006, vor mehr als fünf Jahren, nicht mehr gesehen, als er unser Heimatland besuchte, um am XIV. Gipfeltreffen der Bewegung der Nichtpaktgebundenen teilzunehmen, das in Havanna stattfand und wo Kuba zum zweiten Mal für den festgelegten Zeitraum von drei Jahren zum Präsidenten dieser Organisation gewählt wurde. Ich war am 26. Juli 2006 schwer erkrankt, anderthalb Monate vor dem Treffen, und konnte mich kaum im Bett aufsetzen. Mehrere der herausragendsten Führungspersönlichkeiten, die an der Veranstaltung teilnahmen, hatten die Güte, mich zu besuchen. Chávez und Evo taten dies mehr als einmal. Eines Mittags taten dies vier, an die ich mich immer erinnern werde: UN-Generalsekretär Kofi Annan, Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika, ein alter Freund, Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad, und ein Staatssekretär für Außenpolitik der Regierung Chinas und heutige Außenminister dieses Landes, Yang Jiechi, in Vertretung des Führers der Kommunistischen Partei und Präsidenten der Volksrepublik China, Hu Jintao. Es war für mich ein wirklich wichtiger Moment, obwohl ich kaum meine rechte Hand heben konnte, die bei meinem Sturz in Santa Clara (20. Oktober 2004, Anm. d. Übers.) ernsthaft verletzt worden war.

Mit den Vier besprach ich Probleme, denen sich die Welt zu jener Zeit gegenüber sah. Diese sind sicherlich immer komplizierter geworden.

Beim gestrigen Treffen erlebte ich den iranischen Präsidenten absolut ruhig und gelassen, von den Drohungen der Yankees absolut unbeeindruckt, voller Vertrauen in die Fähigkeit seines Volkes, jeder Aggression zu begegnen, und in die Effizienz der Waffen , die sie zu einem Großteil selbst produzieren, um von den Aggressoren einen unbezahlbaren Preis zu verlangen.

Allerdings haben wir über das Kriegsthema kaum gesprochen. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die Ideen, die er bei seinem Vortrag im Großen Auditorium der Universität von Havanna vorgestellt hatte und die sich auf den Kampf um den Menschen kreisten: »Gehen, um zum Frieden, zur Sicherheit, zur Respektierung der Menschenwürde als dem Wunsch aller Menschen in der gesamten Geschichte zu gelangen.«

Ich bin sicher, daß von seiten des Iran keine unbedachten Handlungen zu erwarten sind, die zum Ausbrechen eines Krieges beitragen. Wenn dieser nicht zu verhindern ist, wird er das alleinige Ergebnis des Abenteurertums und der ihm angeboren Verantwortungslosigkeit des Yankee-Imperiums sein.

Ich meinerseits denke, daß die um den Iran geschaffene politische Lage und die Risiken eines Atomkrieges, die diese beinhaltet und die alle betreffen, ob sie über solche Waffen verfügen oder nicht, äußerst gefährlich ist, denn sie bedroht die Existenz unserer Gattung. Der Mittlere Osten ist zur konfliktreichsten Region der Welt geworden, und er ist das Gebiet, in dem die für die Wirtschaft des Planeten lebenswichtigen Energieressourcen geschaffen werden.

Die zerstörerische Kraft und das massenhafte Leiden, die einige der im Zweiten Weltkrieg eingesetzten Mittel verursacht haben, haben eine starke Tendenz hervorgebracht, einige Waffen zu verbieten, darunter Giftgas und andere in diesem Krieg eingesetzte. Aber die widerstreitenden Interessen und die riesigen Gewinne der Waffenproduzenten hat diese zur Herstellung noch grausamerer und zerstörerischerer Waffen geführt, soweit, daß die moderne Technik das Material und die Mittel bereitgestellt hat, deren Einsatz in einem Weltkrieg zur Ausrottung führen würde.

Ich teile, wie zweifellos alle Menschen mit einem Mindestmaß an Verantwortungsbewußtsein, die Einschätzung, daß kein Land, ob groß oder klein, das Recht auf den Besitz von Atomwaffen hat.

Diese hätten niemals eingesetzt werden dürfen, um wehrlose Städte wie Hiroshima und Nagasaki anzugreifen und in schrecklicher und andauernder Weise Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder zu ermorden und auszulöschen, in einem Land, das bereits militärisch besiegt war.

Wenn der Faschismus die gegen den Nazismus zusammengeschlossenen Mächte dazu gezwungen hat, den Wettlauf mit diesem Feind der Menschheit um die Herstellung einer solchen Waffe aufzunehmen, wäre die erste Pflicht nach der Beendigung des Krieges und der Schaffung der Organisation der Vereinten Nationen gewesen, diese Waffe ohne jede Ausnahme zu verbieten.

Aber die Vereinigten Staaten, die mächtigste und reichste Macht, zwangen dem Rest der Welt die zu verfolgende Linie auf. Heute verfügen sie über Hunderte Satelliten, die aus dem Weltraum alle Bewohner des Planeten ausspionieren und überwachen. Ihre See-, Luft- und Landstreitkräfte sind mit Tausenden Atomwaffen ausgerüstet, und sie hantieren über den Internationalen Währungsfonds nach Lust und Laune mit den Finanzen und Investitionen der Welt.

Wenn wir die Geschichte jeder Nation Lateinamerikas analysieren, von Mexiko bis Patagonien über Santo Domingo und Haiti, können wir sehen, daß alle, ohne eine einzige Ausnahme, vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute, 200 Jahre lang, in der einen oder anderen Weise die immer schlimmeren Verbrechen erlitten haben, die Macht und Gewalt gegen die Rechte der Völker verüben können. Brillante Schriftsteller tauchen in wachsender Zahl auf. Einer von ihnen, Eduardo Galeano, Verfasser von »Die offenen Adern Lateinamerikas«, in dem das oben gesagte beschrieben wird, wurde in Würdigung seines bedeutenden Werkes gerade eingeladen, die Zeremonie des angesehenen Preises der Casa de Las Américas (International bedeutendes Kulturinstitut in Havanna, Anm. d. Übers.) zu eröffnen.

Die Ereignisse folgen einander mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, aber die Technik überträgt sie in noch schnellerer Weise an die Öffentlichkeit. An jedem normalen Tag, wie an einem solchen wie heute, folgen wichtige Nachrichten einander in einem außergewöhnlichen Rhythmus. Eine Tickermeldung mit dem gestrigen Datum des 11. Januar greift wörtlich folgende Nachricht auf: »Die dänische Präsidentschaft der Europäischen Union erklärte am Mittwoch, daß am 23. Januar über eine neue Reihe noch härterer europäischer Sanktionen gegen den Iran wegen dessen Atomprogramm entschieden werden soll, die nicht nur den Erdölsektor, sondern auch die Zentralbank treffen sollen.«

»Wir gehen bei den Erdölsanktionen und gegen die Finanzstrukturen weiter als bisher«, sagte der Chef der dänischen Diplomatie, Villy Sovndal, während eines Treffens mit der ausländischen Presse. Man kann klar feststellen, daß zur Verhinderung der Weiterverbreitung von Atomwaffen Israel Hunderte Sprengköpfe anhäufen darf, während der Iran kein auf 20 Prozent angereichertes Uran produzieren soll.

Eine andere Nachricht über dieses Thema, die von einer angesehenen und kompetenten britischen Agentur stammt, informierte: »China ließ am Mittwoch keine Bereitschaft erkennen, den Forderungen der Vereinigten Staaten nachzugeben, seine Aufkäufe iranischen Erdöls einzuschränken, und schätzt Washingtons Sanktionen gegen Teheran als überzogen ein...«

Jeden müßte die Ruhe überraschen, mit der die Vereinigten Staaten und das zivilisierte Europa diese Kampagne mit einer erstaunlichen und systematischen Terrorpraxis unterstützen. Dazu reichen diese Zeilen, die von einer anderen wichtigen europäischen Nachrichtenagentur übermittelt wurden: »Die Ermordung eines Verantwortlichen für den Kernreaktor von Natanz, im Zentrum des Iran, am Mittwoch gleicht drei früheren Vorfällen seit Januar 2010.« Am 12. Januar jenes Jahres starb »ein international anerkannter Kernphysiker, Massud Ali-Mohammadi, Professor an der Universität von Teheran, der für die Revolutionsgarden arbeitete, bei der Explosion einer Motorradbombe vor seinem Wohnhaus«. 29. November 2010: »Madschid Schahriari, Gründer der Kernforschungsgesellschaft des Iran und 'Beauftragter eines der großen Projekte der iranischen Atomenergieorganisation' wurde in Teheran durch die Explosion einer Magnetbombe getötet, die an seinem Auto befestigt worden war. Am selben Tag wurde ein ein weiterer Kernphysiker, Fereydoon Abbasi-Davani, Ziel eines in gleicher Weise ausgeführten Attentats, als er seinen Wagen vor der Shahid-Beheshti-Universität in Teheran parkte, in der beide Männer Professoren waren.« Er wurde nur verletzt.

»23. Juli 2011: Der Wissenschaftler Dariusch Rezainedschad, der an Projekten des Verteidigungsministeriums arbeitete, wurde von unbekannten Tätern erschossen, die auf einem Motorrad in Teheran flüchteten.«

»11. Januar 2012:« - das heißt am selben Tag, an dem Ahmadinedschad von Nicaragua nach Kuba reiste, um seinen Vortrag an der Universität von Havanna zu halten - »Der Wissenschaftler Mustafa Ahmadi Roschan, der am Reaktor von Natanz arbeitete und dessen Vizedirektor für Handelsangelegenheiten war, starb nahe der Allameh-Tabatabai-Universität im Osten Teherans bei der Explosion einer Magnetbombe, die an seinem Auto angebracht worden war.« Wie in den Jahren zuvor »beschuldigte der Iran erneut die Vereinigten Staaten und Israel«.

Es handelt sich um eine selektive Menschenjagd auf herausragende iranische Wissenschaftler, die systematisch ermordet werden. Ich habe Artikel von bekannten Sympathisanten Israels gelesen, die von Verbrechen sprechen, die ihr Geheimdienst in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und der NATO durchgeführt hat, als wenn dies etwas ganz Normales wäre.

Gleichzeitig berichten die Agenturen aus Moskau, daß Rußland heute gewarnt hat, daß sich in Syrien ein mit Libyen vergleichbares Szenario entwickelt, jedoch warnte, daß der Angriff diesmal von der benachbarten Türkei ausgehen werde. »Der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, erklärte, daß der Westen Damaskus nicht so sehr wegen der Unterdrückung der Opposition bestrafen wolle, sondern weil es sich weigere, seine Allianz mit Teheran abzubrechen. Seiner Meinung nach entwickelt sich in Syrien ein Szenarium wie in Libyen, aber bei dieser Gelegenheit würden die angreifenden Kräfte nicht aus Frankreich, Großbritannien und Italien, sondern aus der Türkei kommen. Er wagte auch die Prognose, daß es möglich sei, 'daß Washington und Ankara bereits verschiedene Möglichkeiten von Flugverbotszonen erörtern, in denen bewaffnete Armeen syrischer Rebellen ausgebildet und konzentriert werden können'.«

Die Nachrichten kommen nicht nur aus dem Iran und dem Mittleren Osten, sondern auch aus anderen Punkten des an den Mittleren Osten angrenzenden Zentralasien. Diese erlauben es uns, die Komplexität der Probleme einzuschätzen, die sich aus dieser gefährlichen Zone entwickeln können.

Die Vereinigten Staaten sind durch ihre widersprüchliche und absurde imperiale Politik in ernsthafte Probleme verwickelt worden. So in Pakistan, dessen Grenzen mit einem weiteren wichtigen Staat, Afghanistan, von den Kolonialherren gezogen wurden, ohne Kulturen oder Ethnien zu berücksichtigen.

In letzterem Land, das über Jahrhunderte seine Unabhängigkeit gegen den englischen Kolonialismus verteidigt hat, hat sich die Drogenproduktion seit der Yankee-Invasion vervielfacht. Und die von unbemannten Flugzeugen und ausgeklügelten Waffen der Vereinigten Staaten unterstützten europäischen Soldaten begehen beschämende Massaker, die den Haß der Bevölkerung vergrößern und die Chancen auf Frieden in die Ferne rücken lassen. Diese und anderer Unrat spiegeln sich ebenfalls in den Tickermeldungen der westlichen Nachrichtenagenturen wider.

»Washington, 12. Januar 2012. US-Verteidigungsminister Leon Panetta bezeichnete an diesem Donnerstag das Verhalten von vier Männern, die in einem im Internet verbreiteten Video als nordamerikanische Marines präsentiert wurden, die in Afghanistan auf Leichen urinieren, als 'absolut bedauerlich'. 'Ich habe die Aufnahmen gesehen und halte das Verhalten (dieser Männer) für absolut bedauerlich... Diese Haltung ist für Mitglieder der US-Armee vollkommen unangemessen und spiegelt keinesfalls die Kriterien und Werte wider, die unsere Streitkräfte zu sichern geschworen haben...«

Tatsächlich bestätigt er die Nachricht nicht, und er dementiert sie nicht. Jeder kann Zweifel haben, und möglicherweise auch der Verteidigungsminister selbst.

Aber es ist auch extrem unmenschlich, daß Männer, Frauen und Kinder, oder ein afghanischer Kämpfer, der gegen die ausländische Besatzung kämpft, von den Bomben der unbemannten Flugzeuge ermordet werden. Etwas ebenfalls sehr gravierendes: Dutzende pakistanische Soldaten und Offiziere, die die Grenzen des Landes bewachten, wurden von diesen Bomben zerrissen.

In Erklärungen hat selbst Afghanistans Präsident Karsai ausgedrückt, daß die Schändung der Leichen »ganz einfach unmenschlich« sei und die US-Regierung aufgefordert, die »härtesten Strafen gegen den anzuwenden, der für dieses Verbrechen verurteilt wird«. Sprecher der Taliban erklärten, daß »in den vergangenen zehn Jahren Hunderte ähnlicher Dinge getan wurden, über die nicht berichtet wurde.«

Man kann jene Tausende Kilometer von ihrem Heimatland entfernt von ihren Familien und Freunden getrennten Soldaten sogar bedauern, die zum Kämpfen in Länder geschickt wurden, von denen sie im Schulunterricht vielleicht kein einziges Mal gehört haben, und wo sie den Auftrag bekommen, zu töten oder zu sterben, um die transnationalen Konzerne, Waffenfabrikanten und skrupellosen Politiker reicher zu machen, die jedes Jahr die Mittel verprassen, die für die Ernährung und Bildung der unzähligen Millionen Hungernden und Analphabeten der Welt gebraucht werden.

Nicht wenige dieser Soldaten enden als Opfer des erlittenen Traumas damit, daß sie sich das Leben nehmen.

Übertreibe ich etwa, wenn ich sage, daß der Weltfrieden an einem seidenen Faden hängt?

Fidel Castro Ruz
12. Januar 2012, 21.14 Uhr

Übersetzung: André Scheer


(*) Der Schattenblick veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der jungen Welt die vollständige Fassung dieser Reflexion des früheren kubanischen Präsidenten, die abrufbar ist unter:
http://www.jungewelt.de/serveDocument.php?id=84


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Quelle:
junge Welt vom 14.01.2012
mit freundlicher Genehmigung des Übersetzers und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Januar 2012