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STANDPUNKT/044: Anschlag in Tucson - Ein Angriff auf Demokratie und Menschenrechte (Joseph Gerson)


Terror in Tucson - Ein tiefwurzelnder Angriff auf Demokratie und Menschenrechte

Von Joseph Gerson(*) - Montag, 10. Januar 2011

Jetzt sind es ein politisches Attentat und Morde in Tucson.


William Faulkner hat einmal geschrieben, daß die Vergangenheit nicht tot ist, sie ist noch nicht einmal vergangen. Ich bin ein Veterane aus Arizona. Als einer der führenden Friedensverfechter und -organisatoren während des Vietnam-Kriegs habe ich mehr als meinen Anteil an Todesdrohungen erhalten, einschließlich einer auf dem Gaspedal meines Wagens. Nachdem Präsident Nixon die "Hard Hats" [1] aufgefordert hatte, Friedensaktivisten anzugreifen, ließ die John Birch Society [2] betrunkene Bergleute auf uns los, und ich wurde von der Polizei verprügelt und zu einer Haftstrafe verurteilt, weil ich das Verbrechen begangen hatte, friedlich auf einem öffentlichen Gehweg Flyer verteilt zu haben, um gegen den Einsatz von Landminen gegen vietnamesische Zivilisten zu protestieren.

Einmal haben meine Frau, einige Freunde und ich um ein Haar unser Lager auf einem entlegenen Schießplatz der 'Minute Man'-Miliz [3] im Norden des Staates aufgeschlagen. Und während ich das hier schreibe, trauert ein lieber Freund wegen des Mordes an Richter Roll, seinem Jugendfreund, und betet für die anderen Freunde, die durch Jared Lee Loughners [4] Terroranschlag schwer verletzt wurden.

Abgesehen von Loughners Geisteszustand und von der Frage, ob die Morde Teil einer Verschwörung waren oder nicht, erwachsen sie aus historischen, kulturellen und politischen Zusammenhängen, von denen einige so jung sind wie die Vitriolanschlags- und Todesdrohungen als Antwort auf den Wahlsieg Präsident Obamas und andere, die auf das noch immer unbewältigte Kräftespiel des US-Bürgerkrieges zurückgehen, auf die koloniale Siedlerkultur unseres Wilden Westens und auf unsere allem Anschein nach nie endenden imperialen Kriege.

Wäre doch Arizona die einzige Zeitbombe dieser Art, die von der extremen Rechten gelegt wurde. Als das Parlament von New Hampshire in diesem Monat zusammentrat, war seine erste Entscheidung, den Menschen zu erlauben, Waffen mit in die Hauptstadt des Staates zu bringen.

Auch wenn ich keine unnötigen Ängste schüren will, rühren doch, wenn ich in die Zukunft sehe, meine tiefsten Katastrophenbefürchtungen aus meinen Erfahrungen im Libanon zu der Zeit, als dort 1975 der Bürgerkrieg begann. Ich kam etwa 15 Minuten bevor jener lange und brutale, mörderische Krieg mit voller Wucht einsetzte in Beirut an. In den Jahren, die zu diesem Krieg hinführten, erwarben die Menschen - wie es auch hier der Fall ist - Waffen in beängstigendem Tempo. Ich erinnere mich daran, daß es zu jener Zeit hieß, der Besitz tödlicher Waffen im Libanon betrage im Schnitt zwei pro Person. Schußwaffen waren überall und bettelten in der aufgeheizten Atmosphäre förmlich darum, zum Einsatz zu kommen.

Die Rhetorik der rechtsgerichteten libanesischen Falangisten und der maronitischen Führung war nicht sehr viel haßerfüllter oder rassistischer als hier in den USA, wo die Furcht vor den Latino-Einwanderern, die in die USA strömen, um "ein Baby abzuliefern" [5], die Hysterie der 1920er Jahre angesichts der 'gelben Gefahr', mit der die hart arbeitenden Asiaten gemeint waren, ersetzt. In beiden Fällen sind sie aus ziemlich den gleichen Gründen in die USA gekommen wie die Einwanderer aus ganz Europa. Und es ist nur wenige Monate her, daß Jesse Kelly in seiner fehlgeschlagenen Wahlkampagne mit seinen doppeldeutigen Anmerkungen über den Gebrauch von M16-Gewehren warb, um 'sie zu schlagen'. [6]

Wir sind noch weit entfernt von einem Bürgerkrieg, aber es fällt schwer, nicht auch eine Verbindung zwischen den Morden in Tucson und dem Attentat auf Salman Taseer [7] in Pakistan zu ziehen. Dort wie hier versucht eine schwerbewaffnete und fanatische Minderheit, unterstützt von gut etablierten militaristischen und religiös-konservativen Kräften, der Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen.

Nach erfolgter Reaktion auf den ursprünglichen Schock durch den Attentatsversuch und die Morde von Tucson, werden wir - und insbesondere jene von uns, die im liberaleren Osten leben - versucht sein, das ganze als isoliertes Ereignis anzusehen, das uns nicht wirklich Sorgen bereiten sollte. Wir müssen uns jedoch, wenn wir uns so etwas wie Demokratie bewahren wollen, dem wachsenden Rassismus und der Kultur der Gewalt - die durch die Macht und den Einfluß des Militärisch-Industriellen-Kongreß-Komplexes und die Kriege, die geführt werden, um die Übernahme durch unsere Gesellschaft und die Pentagon-Doktrin der "Dominanz über das volle Konfliktspektrum" durchzusetzen, verstärkt werden - entgegenstellen und diese ändern.

Wir haben andere und bessere US-Traditionen, -Werte und -Visionen. Wir verehren Martin Luther King Jr. aufgrund seiner Vision dessen, was aus den Vereinigten Staaten einmal werden könnte, und wegen seines selbstlosen Mutes im Einsatz für eine gerechtere, friedvollere und beständigere Gesellschaft. Statt am nächsten Montag einen Einkaufsbummel zu machen, täten wir gut daran, über die Ähnlichkeiten zwischen den Kugeln der Mörder in Memphis [8] und in Tucson und über die transformierenden Worte in Kings Friedensnobelpreisrede zu meditieren, die heute wie damals zutreffen:

Ich weigere mich, die zynische Meinung zu übernehmen, eine Nation nach der andern müsse eine militaristische Stufenleiter hinabsteigen bis in die Hölle thermonuklearer Vernichtung. Ich glaube, daß unbewaffnete Wahrheit und bedingungslose Liebe das letzte Wort in der Wirklichkeit haben werden. Das ist der Grund, warum Recht, auch wenn es vorübergehend unterliegt, stärker ist als triumphierendes Böses.

Ich glaube, daß es inmitten der heulenden Geschosse und Granatenexplosionen unserer Tage Hoffnung gibt für ein helleres Morgen. Ich glaube, daß verwundete Gerechtigkeit, die auf den bluttriefenden Straßen unserer Nation hingestreckt ist, aus dem Staub der Schande emporgehoben werden kann, um über alle Menschenkinder zu herrschen. [9]

(*) Joseph Gerson ist Abrüstungsexperte des American Friends Service Committee und Programmdirektor des AFSC [10] in Neuengland


Anmerkungen der Schattenblick-Redaktion:

[1] Hart Hat - eigentlich Schutzhelm, steht synonym für die schwer arbeitende Bevölkerung, die in einer Diffamierungskampagne gegen die Vietnam-Proteste mobilisiert werden sollte.

[2] Rechtsgerichtete amerikanische Organisation (verfolgte Ziele lt. eigenen Angaben u.a.: Stärkung der persönlichen Freiheiten und Beschränkung der Regierungsbefugnisse)

[3] Minute Men - ursprünglich Miliz aus der Zeit des Unabhängigkeitskrieges in den britischen Kolonien, so benannt, weil sie in Minutenschnelle einsatzbereit war. Spätere Milizen wurden nach ihrem Vorbild geschaffen und benannt.

[4] Wird für den Anschlag in Arizona verantwortlich gemacht, bei dem 6 Menschen, unter anderem Bezirksrichter John Roll, getötet sowie die Kongreßabgeordnete Gabrielle Giffords und 13 weitere Menschen verwundet wurden.

[5] Nach amerikanischem Recht erhält jedes in den USA geborene Kind die amerikanische Staatsbürgerschaft.

[6] Dazu hieß es im Berliner Tagesspiegel vom 09.01.2011: "Nicht nur rhetorisch lud unterdessen Giffords Gegner im Rennen um den Abgeordnetensitz nach. Der republikanische Kandidat Jesse Kelly forderte seine Anhänger im Juni auf: 'Helft uns Gabrielle Giffords aus dem Amt zu werfen. Feuert eine vollautomatische M16 mit Jesse Kelly.'"
http://www.tagesspiegel.de/politik/anschlag-auf-us-politikerin/3693720.html - Zugriff 13.01.2011

[7] Pakistanischer Gouverneur, der am 04.01.2011 aufgrund seiner - wie man sagt - zu westlichen Orientierung von seinem eigenen Leibwächter erschossen wurde.

[8] Attentat auf Martin Luther King am 04.04.1968 in Memphis.

[9] Zitiert nach: Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Online-Magazin.
http://www.lebenshaus-alb.de/magazin/002652.html - Zugriff 13.01.2011

[10] American Friends Service Committee (AFSC): Quäker-Friedensorganisation in New England, USA, für die Joseph Gerson seit 1976 arbeitet.


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Quelle:
Tucson Terrorism: A Deeply Rooted Assault on American Democracy
von Joseph Gerson, American Friends Service Committee, 10.01.2011
Internet: www.afsc.org
mit freundlicher Genehmigung des Autors
in einer Übersetzung des Schattenblick aus dem Englischen


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2011