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KRIEG/1680: Du bist nicht allein - Merkels Hilfstruppen an der Flüchtlingsfront (SB)



Bundeskanzlerin Angela Merkel ist der Überzeugung und Bundesinnenminister Thomas de Maizière ebenso: Afghanistan ist ein sicheres Land - wenn nicht insgesamt, so doch in einzelnen Teilen, weshalb man Flüchtlinge getrost dorthin abschieben könne. Woher die beiden ihr Wissen beziehen, ist allerdings schleierhaft. Vom UN-Flüchtlingswerk (UNHCR), dessen neuesten Bericht de Maizière eigens eingeholt hatte, kann die Information nicht stammen, denn darin steht das Gegenteil: Die Sicherheitslage habe sich in den letzten Monaten drastisch verschlechtert, und angesichts ständig wechselnder Verhältnisse könne von sicheren Provinzen nirgendwo Rede sein. Der soeben vorgelegte Jahresbericht der Vereinten Nationen für 2016 zeichnet ein verheerendes Bild. Im eskalierenden Krieg zwischen Taliban und Regierung sei die Gesamtzahl der getöteten oder verletzten Zivilisten auf einen Höchststand von fast 12.000 gestiegen, wobei es sich inzwischen bei fast jedem dritten Opfer um ein Kind handle. [1]

Fünf deutsche Bundesländer haben daraus den Schluß gezogen, wegen der Sicherheitslage vorerst kaum noch nach Afghanistan abzuschieben. Neben Schleswig-Holstein und Berlin nehmen auch Bremen, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz keine Rückführungen vor, lediglich "Straftäter" und "Gefährder" würden abgeschoben. Die Innenministerien dieser Länder erklären unter Berufung auf den Bericht der UN-Organisation, daß derzeit aufgrund der nicht hinreichend geklärten Sicherheitslage Rückführungen nach Afghanistan im Zweifel bis zur Klärung der Sicherheitslage zurückgestellt würden.

Das erbost die Kanzlerin, die auf dem Parteitag des CDU-Landesverbands in Neumünster erklärte, die Rückführung sei Teil rechtsstaatlicher Vorgänge, der Abschiebestopp der Landesregierung Schleswig-Holsteins nach ihrer "festen Überzeugung" folglich nicht in Ordnung. Es gebe in Afghanistan Regionen, in denen man relativ sicher leben könne, in anderen nicht. Das Thema sei nicht ganz einfach: Es werde sehr sensibel geprüft, wer dorthin zurückgeschickt wird. Von den rund 250.000 in Deutschland lebenden Afghanen waren Mitte Dezember nach Angaben des Bundesinnenministeriums rund 11.900 ausreisepflichtig, etwa 10.300 von ihnen sind geduldet. [2]

Folgt man der Logik Merkels, können deutsche Behörden durch eine "sensible" Prüfung der hier lebenden Flüchtlinge herausfinden, welche afghanischen Regionen sicher sind. Offenbar sind dabei hellseherische Fähigkeiten am Werk, welche die Bundesregierung aus Gründen gebotener Geheimhaltung nicht ans Licht der Öffentlichkeit durchsickern lassen möchte. Daß derartige Talente keineswegs auf die Kanzlerin oder dafür geschulte Mitarbeiter der Ausländerbehörden beschränkt sind, läßt der Hamburger Senat durchblicken. In der Hansestadt hält man an Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan fest, für den Stadtstaat habe sich nichts geändert, erklärt ein Sprecher der Innenbehörde.

Hamburg hat mit rund 20.500 Mitgliedern bundesweit eine der größten afghanischen Gemeinschaften. Bei Abschiebungen will die rot-grün regierte Hansestadt weiter das Mittel der Einzelfallprüfung "sehr sorgfältig und intensiv nutzen", wie es aus der Innenbehörde heißt. Die Zahl der potentiell Betroffenen liege insgesamt im "zweistelligen Bereich". Von einer Abschiebung bedroht sind demnach vorwiegend Straftäter sowie "alleinreisende oder alleinstehende Männer, die nicht durch Integrationsbemühungen aufgefallen sind", wie es der Behördensprecher ausdrückt. Frauen, Kinder, Familien, Personen über 65 Jahre und unbegleitete Minderjährige würden nicht ausgewiesen. [3]

Diese kreative Interpretation des humanitären Völkerrechts, das Abschiebungen in Kriegsgebiete mit einem Bann belegt, dürfte der Kanzlerin Freude bereiten. Wieso bestimmte Personengruppen schutzbedürftig sein sollen, Straftäter und alleinstehende Männer aber nicht, kann das Zauberwort "Einzelfallprüfung" allerdings Außenstehenden nicht recht plausibel machen. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Art Schutzzauber, der die Abgeschobenen dauerhaft davor bewahrt, in Afghanistan auf eine Mine zu treten, von einer Kugel getroffen, einer Sprengfalle in Stücke gerissen oder einer Bombe der Besatzungsmächte vom Erdboden getilgt zu werden.

Schützenhilfe von nicht ganz unerwarteter Seite erhält die Bundesregierung bei ihrer Flüchtlingspolitik aus Saarbrücken. Nachdem die Vorsitzende der Linksfraktion im Bundestag, Sahra Wagenknecht, in der Vergangenheit eine Haltung in der Flüchtlingsfrage eingenommen hatte, die Teilen ihrer Partei die Haare zu Berge stehen ließ, hat nun Oskar Lafontaine nachgelegt. Der Spitzenkandidat und Fraktionschef der Linken im Saarland spricht sich für eine konsequente Steuerung der Zuwanderung aus. Letztlich müsse "der Staat darüber entscheiden können, wen er aufnimmt. Das ist nun mal die Grundlage staatlicher Ordnung", so Lafontaine. "Wer illegal über die Grenze gekommen ist, der sollte ein Angebot bekommen, freiwillig zurückzugehen. Wenn er dieses Angebot nicht annimmt, bleibt nur die Abschiebung."

"Die Einwanderungsfrage ist vor allem eine soziale Frage - für die, die kommen und für die, die schon hier leben. Sie ist eine nicht geklärte Frage innerhalb der Programmatik der Linken", lektioniert er seine Partei, die darüber nachdenken müsse, warum viele Arbeiter und Arbeitslose die AfD wählen. "Der Imperativ der sozialen Gerechtigkeit muss auch bei der Migration gelten. Wir müssen zuerst denen helfen, denen es am schlechtesten geht." Das seien "die Millionen Flüchtlinge in den Lagern im Vorderen Orient und die Menschen, die in Afrika an Hunger sterben und keine Chance haben, nach Deutschland zu kommen, auch weil sie die 7000 Euro für die Schlepper nicht bezahlen können".

Wieso es sozial sein soll, den Menschen in den Flüchtlingslagern zu helfen und dafür "illegale" Flüchtlinge aus Deutschland abzuschieben, geht es dem rhetorischen Trick Lafontaines freilich nicht hervor. Und seinem Ansinnen, den Rechten bei der Bundestagswahl das Wasser abzugraben, indem man sich in der Flüchtlingspolitik tendenziell ihren Positionen nähert, kann man sich durchaus verweigern, was auch für die Linkspartei gilt. Exotisch ist an dieser Stelle allenfalls der staatsmännische Gestus, mit dem der frühere Parteichef die kleinkarierte Frage nach der Sicherheit in Afghanistan und anderen Abschiebeländern gar nicht erst thematisiert, sondern einen unverhofften Debattenbeitrag ins Feld führt:

Der Soziologe Colin Crouch habe "darauf hingewiesen, dass der Ruf nach offenen Grenzen eine zentrale Forderung des Neoliberalimus ist". Wenn Lafontaine den freien Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Arbeitskräften zu Recht als neoliberale Einfallstore ausweist, aber geflissentlich unterschlägt, daß dabei ein Sozialtransfer natürlich nie vorgesehen war, erklärt er offene Grenzen für Flüchtlinge de facto zu einer neoliberalen Praxis, die es abzustellen gelte. Das ist denn doch ein fadenscheiniger Winkelzug, dessen peinliches Flickschustern schmerzt.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/afghanistan-immer-mehr-zivile-opfer-weniger-abschiebungen.1818.de.html

[2] http://www.morgenpost.de/politik/article209512759/Neue-Zweifel-an-Rueckfuehrungen-nach-Afghanistan.html

[3] https://www.welt.de/regionales/hamburg/article161851254/Hamburg-will-weiter-nach-Afghanistan-abschieben.html

[4] https://www.welt.de/politik/deutschland/article161818446/Staat-muss-entscheiden-koennen-wen-er-aufnimmt.html

6. Februar 2017


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