Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → KOMMENTAR


KRIEG/1673: Rückführung nach Afghanistan - Abschiebung in die Hölle (SB)



Herrscht nicht Krieg in Afghanistan? Das deutsche Parlament stimmt morgen der Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr zu, die im Norden des Landes die Verantwortung für den NATO-Einsatz trägt. Rund 800 deutsche Soldaten sowie 1000 weitere aus 20 Partnerländern sind in einem großen und hoch gesicherten Stützpunkt am Stadtrand Masar-i-Scharifs stationiert, den sie nur dann verlassen, wenn es unbedingt notwendig ist. Seit die NATO Ende 2014 ihren Kampfeinsatz in Afghanistan offiziell beendet und den afghanischen Sicherheitskräften die Verantwortung übergeben hat, zahlen diese einen hohen Blutzoll. Im Jahr 2015 wurden etwa 5000 afghanische Soldaten getötet, zwischen Januar und Mitte August 2016 waren es bereits 5523 getötete und weitere 9665 verwundete Soldaten. Seit Anfang des Jahres starben nach UN-Angaben etwa 2500 Zivilisten bei Anschlägen, Überfällen oder Gefechten der Islamisten mit Soldaten, 5800 wurden verletzt. 245.000 Afghanen hätten wegen der Gewalt aus ihren Heimatorten in andere Regionen des Landes fliehen müssen. Derzeit stehen nur noch etwa 63 Prozent des Landes unter Kontrolle der Regierungstruppen.

Herrscht nicht Krieg in Afghanistan? Anfang November verwüstete ein schwerer Anschlag der Taliban das deutsche Generalkonsulat in Masar-i-Scharif, sechs Menschen wurden dabei getötet und mindestens 128 verletzt. Die etwa zwei Dutzend deutschen Mitarbeiter befanden sich nicht unter den Opfern, sie wurden in das von der Bundeswehr geführte Militärlager Camp Marmal gebracht. Das zuvor von einer mehrere Meter hohen Mauern umgebene und stark gesicherte Anwesen wurde aus Sicherheitsgründen komplett aufgegeben.

Herrscht nicht Krieg in Afghanistan? Die Bundesregierung rät zwar dringend von Reisen nach Afghanistan ab, will aber Zehntausende Afghanen und ihre Familien in die Hölle zurückschicken. Für Mittwochabend war der erste Sammelabschiebeflug an den Hindukusch geplant, eine Chartermaschine mit 50 abgelehnten Asylbewerbern sollte vom Frankfurter Flughafen aus starten, einige von ihnen gegen ihren Willen, andere "freiwillig". Die Europäische Union und die Bundesregierung haben einen Handel Geld gegen Menschen mit Kabul abgeschlossen, ist doch das Milliardenprogramm, ohne das die Zentralregierung nicht überleben könnte, de facto mit der Auflage gekoppelt, daß schätzungsweise 80.000 der rund 200.000 afghanischen Flüchtlinge, die 2015 in die EU gekommen sind, rückgeführt werden sollen.

Um diese Praxis zu rechtfertigen, schreckt die Bundesregierung nicht vor krassen Verzerrungen hinsichtlich der Sicherheitslage in Afghanistan zurück. Bei der Rückkehr der Taliban nach Kundus handle es sich um eine "mögliche zeitweise Verschlechterung der Sicherheitslage". Die Führung der Taliban habe ihre Kämpfer "glaubhaft und eindeutig angewiesen, zivile Opfer zu vermeiden". In einem nicht öffentlichen Lagebericht des Auswärtigen Amtes steht das Gegenteil: Die Taliban würden "ohne Rücksicht auf Zivilisten" vorgehen, wobei sie nicht die einzigen sind. Dem vertraulichen Bericht zufolge sind für 23 Prozent der zivilen Opfer die afghanischen Sicherheitskräften, mit ihnen verbündeten Milizen oder NATO-Truppen verantwortlich. [1]

Die 50 Abgeschobenen zählen zu den 1,2 Millionen Binnenflüchtlingen, die an den Rändern der afghanischen Städte in Slums oder in Flüchtlingslagern zu überleben versuchen. Laut dem Bericht des Außenministeriums sind die Strukturen der Flüchtlingshilfe dort völlig überlastet, die ohnehin karge Hilfe für Rückkehrer kommt häufig nicht dort an, wo sie sich aufhalten. Flüchtlingsorganisationen wie Pro Asyl gehen davon aus, daß die angeblich sicheren Gebiete nicht erreichbar sind und sich die Sicherheitslage von einem Tag auf den anderen ändern kann. Gegenwärtig fänden in 31 von 34 afghanischen Provinzen Kampfhandlungen mit Tausenden Toten statt. Die These der Bundesregierung von sicheren "internen Schutzalternativen" in der afghanischen Hauptstadt Kabul oder in Masar-i-Scharif weist auch das Bündnis Hamburger Flüchtlingsinitiativen zurück. Tatsächlich komme es auch dort "regelmäßig zu Attentaten und Bombendetonationen mit vielen Toten". [2]

Neben Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen verurteilten auch die Linkspartei und die Grünen die Abschiebepraxis der Bundesregierung. Abschiebungen in ein Kriegsgebiet seien ein "humanitärer Tabubruch", erklärte die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Luise Amtsberg. Anders als von der Bundesregierung behauptet, sei zudem vor Ort eine Unterstützung derer, die nach Afghanistan abgeschoben werden, nicht gegeben. [3] Die geplanten Sammelabschiebungen seien ein Skandal, erklärte die hessische Landesvorsitzende der Linkspartei, Heidemarie Scheuch-Paschkewitz. "Schutzbedürftige Menschen in ein vom Krieg zerrüttetes Land auszuweisen", sei "das Gegenteil einer humanen Flüchtlingspolitik", erklärte sie in Frankfurt.


Fußnoten:

[1] https://www.jungewelt.de/2016/12-15/001.php

[2] http://www.zeit.de/hamburg/politik-wirtschaft/2016-12/hamburg-afghanen-abschiebung-frankfurt

[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/protest-gegen-geplante-sammelabschiebung-nach-afghanistan-14574057.html

14. Dezember 2016


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang