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KRIEG/1647: Die soziale Opposition der Türkei im Visier der Wertegemeinschaft (SB)



Zwar wird die türkische Regierung zur Mäßigung beim Einsatz kriegerischer Gewalt und zur Fortsetzung des Friedensprozesses gemahnt, doch im Prinzip unterstützt die Bundesregierung die Angriffe ihrer Streitkräfte auf die PKK im Nordirak. Sie schließt sich damit dem Bündnispartner USA an, dessen Regierung dem türkischen Präsidenten Erdogan nicht nur grünes Licht für die Zerschlagung der inneren Opposition gegeben hat, sondern sich auch gegen die kurdische Selbstverwaltung im Norden Syriens ausspricht. Da Washington der Einrichtung einer sogenannten Sicherheitszone längs der türkisch-syrischen Grenze zustimmt, die mit einem Umfang von etwa 110 mal 65 Kilometern [1] de facto eine Teilbesetzung Syriens darstellt, sind die drei Kantone des mehrheitlich kurdisch besiedelten Autonomiegebiets Rojava akut gefährdet.

Hat sich der vorgebliche Krieg gegen den IS schon aufgrund der Inhaftierung hunderter linker Aktivistinnen und Aktivisten bei den Razzien der letzten Tage als Vorwand zur Zerschlagung der inneren Opposition erwiesen, so zeigen die Angriffe der türkischen Streitkräfte auf PKK-Stellungen im Nordirak, daß die AKP-Regierung auch vor der Entfesselung eines Bürgerkrieges in der Türkei nicht zurückschreckt. So hat Ministerpräsident Davutoglu PKK, DHKP-C und IS als gleichrangig zu bekämpfende Terrororganisationen bezeichnet. Die Inhaftierung zahlreicher Mitglieder der im Parlament vertretenen HDP unter dem Vorwand, sie gehörten der PKK an, könnte diese Stoßrichtung nicht besser belegen. Zudem bezeichnete er die Schaffung der sogenannten Sicherheitszone im Norden Syriens im Sinne einer folgerichtigen Eskalationsstrategie gegen diese Gruppen als "dritte Welle unserer Operation" und "Teil des Ganzen" [V2].

Diese Entwicklung seitens der Bundesregierung lediglich mit Mahnungen zur Mäßigung zu quittieren und ansonsten politisch zu decken, schafft beste Voraussetzungen dafür, die bereits in der Region stationierte Bundeswehr demnächst in einen größeren Krieg zu verwickeln. Selbst wenn der NATO-Rat bei seinem morgigen Treffen nicht den Bündnisfall erklärt, wäre die im Grenzgebiet zu Syrien mit Raketenbatterien präsente Bundeswehr Bestandteil der gegen das Nachbarland und die kurdische Bewegung gerichteten Aggression. Dies um so mehr, als die Bundesrepublik stets, wenn Parteinahme für die demokratische Opposition gefragt ist, auf der Seite des türkischen Staates steht und ihn unter anderem mit Waffenlieferungen beim Krieg gegen die eigene Bevölkerung unterstützt. Dies erfolgt zwar aus bündnisopportunen und geostrategischen Gründen, stellt aber ebenso eine repressive Maßnahme gegen alle Unterstützerinnen und Unterstützer der türkischen und kurdischen Linken in der Bundesrepublik dar. Indem die Bundesregierung seit jeher mit der staatlichen Exekutivgewalt in Ankara konform geht, reklamiert sie unausgesprochen die exekutive Durchsetzung der deutschen Staatsräson in den Expansionszonen der NATO und EU wie im eigenen Land.

Es mag nicht auf den ersten Blick zu erkennen sein, aber auch dieser Krieg ist im Kern sozial bestimmt. Indem die AKP-Regierung versucht, die eigene Bevölkerung auf einen islamisch aufgeladenen Nationalismus einzuschwören, das Bündnis mit den Kapitaleliten zu zementieren, die Unterdrückung der Frauen beizubehalten und die Liberalität des urbanen Lebens als sittenwidrig zu geißeln, entzieht sie sich jeder Verantwortung für die elenden sozialen Bedingungen, in denen ein großer Teil der Bevölkerung des Landes lebt. Da mit dem Gezi-Aufstand vor zwei Jahren und dem jüngsten Wahlerfolg der HDP die Möglichkeit offenkundig wurde, daß breite Bündnisse verschiedener oppositioneller Kräfte nicht nur temporär in Erscheinung treten, sondern die AKP-Regierung dauerhaft herausfordern, besteht jetzt die Gelegenheit, die soziale Opposition zu kriminalisieren und zu isolieren. So fungierte der Anschlag des IS auf die in Suruc versammelte Solidaritätsbewegung für Kobani [3] nicht zufällig als Initialzündung für das Losschlagen des türkischen Staates gegen die linke Opposition.

Der Erklärung Erdogans, unter allen Umständen die Entstehung eines kurdischen Staates im Norden Syriens zu verhindern, seitens der Bundesregierung nicht entgegenzutreten ist auch ein Ergebnis des intensiven Interesses deutscher Hegemonialpolitik an den kurdischen Gebieten im Nordirak. Will man hier weiterhin mit Soldaten, Unternehmen und Wirtschaftsberatern aktiv sein, dann gilt es, die imperialistische Politik des Teilens und Herrschens trennscharf zu vollziehen. So werden die Angriffe türkischer Streitkräfte auf die PKK und auf Rojava unter dem Vorwand des Terrorismus auch deshalb politisch legitimiert, um die eigene Bewegungsfreiheit bei den Geschäften mit den kurdischen Machthabern und Oligarchen im Nordirak zu sichern. Diese haben bereits als Sachwalter der US-amerikanischen Besatzungspolitik im Irak bewiesen, daß sie gegen die kurdische Freiheitsbewegung gerichtete Bündnisse mit Ankara einzugehen bereit sind.

Schlußendlich ist nicht zu vergessen, daß die aktuelle Konfrontation mit dem IS in der seit über drei Jahrzehnten systematisch erfolgenden Destabilisierung der Region südlich der Türkei im Interventionismus der NATO-Staaten wurzelt. Auch dies erfolgte stets unter indirekter bis direkter Beteiligung der Bundesrepublik. Die nun in Berlin laut werdenden Klagen über die aggressive Politik Erdogans sind daher vor allem dem Ärger darüber geschuldet, daß es für den deutschen Imperialismus nicht so rund läuft wie für seinen US-amerikanischen Konterpart.


Fußnoten:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-gegen-islamischer-staat-gegen-pkk-wer-will-was-a-1045521-druck.html

[2] http://www.deutschlandfunk.de/angriffe-auf-is-und-pkk-tuerkei-will-sicherheitszone-in.1783.de.html?dram:article_id=326491

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/volk1646.html

27. Juli 2015


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