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KRIEG/1519: Zehn Jahre Alptraum in Afghanistan - Inzwischen auch für die Besatzungsmächte (SB)



Am Abend des 7. Oktober 2001 verkündete US-Präsident George W. Bush seinem Volk und aller Welt in einer Fernsehansprache: "Wir werden nicht wanken, wir werden nicht müde werden, wir werden nicht zaudern und wir werden nicht versagen." Mit dieser Kriegserklärung versetzte er die US-amerikanischen Medien in einen euphorischen Freudentaumel: "America strikes back", jubelte eine Journaille unisono, die der Doktrin des "Antiterrorkriegs", es handle sich um Vergeltung und die Abwehr einer allgegenwärtigen Bedrohung, bereitwillig auf den Leim ging. Für die Operation "Enduring Freedom" (Dauerhafte Freiheit) erhielt die US-Regierung international beispiellose Unterstützung. [1]

Zehn Jahre später ist der Krieg in Afghanistan auch für das Okkupationsregime zu einem Alptraum geworden. Zwar bleibt die angestrebte und stets dementierte Dauerpräsenz vorerst ungefährdet, doch wurden sämtliche zur Täuschung der Öffentlichkeit in den Herkunftsländern der Besatzungsmächte vorgehaltenen Ziele verfehlt. Die Decke der Propaganda wird immer fadenscheiniger, da das Mißverhältnis zwischen proklamierten Fortschritten und kaum noch zu kaschierenden Rückschlägen nur mit größter Mühe unter dem Deckel gehalten werden kann.

"Wir haben sie empfindlich getroffen, wenngleich ich mir nicht sicher bin, wie empfindlich wir sie getroffen haben", versuchte der US-Botschafter in Afghanistan, Ryan C. Crocker, im August, die Widersprüche unter einen Hut zu bringen. "Und ich kann auch nicht mit Sicherheit sagen, ob wir in absehbarer Zeit wissen, wie empfindlich wir sie getroffen haben", hielt er die benötigte Option offen, ein Truppenkontingent auch über alle genannten Abzugsdaten hinaus dauerhaft in Afghanistan zu stationieren. [2]

Wenngleich die politische und militärische Führung der Vereinigten Staaten ihren weltweiten Kriegszug als Zugewinn geostrategischer Positionen konzipiert hat, die nicht mehr preisgegeben werden dürfen, laufen die USA Gefahr, sich militärisch und ökonomisch zu überstrecken. So unverzichtbar die expansionistische Strategie für den Erhalt der eigenen Vormachtstellung ist, so schaufelt die Supermacht doch zugleich ihr eigenes Grab. Gelingt es ihr, die unablässige Abwälzung der Lasten auf den Rest der Welt aufrechtzuerhalten und zu steigern, verschafft sie sich eine Frist.

Der unter Bush begonnene Angriffskrieg gegen Afghanistan ist unter seinem Nachfolger Barack Obama endgültig zum längsten und teuersten Konflikt der US-Geschichte geworden. Das Magazin Newsweek spricht von einem neuen Vietnam, die New York Times von einem ausweglosen Krieg. Bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel forderte US-Verteidigungsminister Leon Panetta die europäischen Bündnispartner auf, angesichts "dramatischer Einschnitte" im US-Verteidigungshaushalt mehr Verantwortung zu übernehmen. Andernfalls könne man künftig Operationen wie in Afghanistan oder Libyen kaum noch bewältigen. Die Einschnitte für die nächsten zehn Jahre bezifferte er auf mindestens 450 Milliarden US-Dollar, was erhebliche Auswirkungen auf die Fähigkeiten des Bündnisses haben werde. [3]

Panetta setzte seine europäischen Amtskollegen mit dem Hinweis unter Druck, daß die Verteidigungsausgaben in Europa im vergangenen Jahrzehnt um fast zwei Prozent jährlich zurückgegangen seien. Das habe dazu geführt, daß dringend notwendige Modernisierungsmaßnahmen aufgeschoben worden seien. Gegen eine Übernahme der Lasten verwahrte sich Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière: Zu kompensieren, was die Amerikaner nicht mehr für die gemeinsame Sicherheit leisten können, sei keine Option. Die NATO müsse sich mit stagnierenden oder sinkenden Verteidigungsetats abfinden und ihre Kräfte besser bündeln.

Daraus auf Risse im Bündnis zu schließen, wäre voreilig. Die NATO-Staaten eint das Interesse, zur Fortschreibung ihres Vorteils eine permanente Drohkulisse vorzuhalten. Kriege tatsächlich zu führen, ist demgegenüber mitunter unverzichtbar, doch zugleich unerhört aufwendig, weshalb der Streit um die Verteilung der extremen Lasten unvermeidlich ausbricht. Die Besatzungsmächte haben rund 130.000 Soldaten in Afghanistan stationiert, davon 100.000 Amerikaner und rund 5.000 Soldaten der Bundeswehr. Bei der mit etwa 2.500 getöteten Soldaten verlustreichsten Mission in der Geschichte der NATO starben bislang 1.800 amerikanische und 52 deutsche Soldaten. Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat der Bundeswehreinsatz am Hindukusch bisher 17 Milliarden Euro gekostet. Unter diesen Umständen fällt es den Regierungen schwer, den unpopulären Einsatz gegenüber der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. So befürworten in Umfragen inzwischen rund zwei Drittel der Deutschen einen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan. [4]

Ob sich der Krieg auch lohne, bemißt sich für die Bürger letzten Endes am in Aussicht stehenden Ertrag. So sehr man mit der Staatsführung übereinstimmt, daß die deutschen Fleischtöpfe nicht leer werden dürfen, wofür weltweit Sorge zu tragen sei, ist die Kriegslaune so wetterwendisch wie der Waffengang selbst. Nimmt der Eindruck überhand, daß dieser Krieg verloren sei, greift Mißstimmung um sich. Das gilt auf höherer Ebene gleichermaßen für die Regierungen der kriegführenden Länder, die sich die anteilige Beute des Feldzugs keinesfalls entgehen lassen, doch andererseits auch nicht zugunsten ihrer Verbündeten ausbluten wollen. Daher belauern die NATO-Partner einander hinsichtlich des Abzugs, da sie nicht zu Unrecht argwöhnen, sie könnten plötzlich allein im Schlamassel dastehen.

Der US-Verteidigungsminister hat den Bündnispartnern zugesagt, sie trotz der geplanten Reduzierung des US-Kontingents um ein Drittel bis zum Herbst 2012 nicht im Stich zu lassen. Demnach werden keine Truppenteile abgezogen, die für den Einsatz der Alliierten dringend erforderlich sind. Das betrifft unmittelbar die Bundeswehr, da diese in ihrem Zuständigkeitsgebiet im Norden des Landes vor allem auf die rund 50 amerikanischen Hubschrauber angewiesen ist, die unter anderem für die Rettung verletzter Soldaten benötigt werden. Obama hat zwar angekündigt, bis September nächsten Jahres 33.000 Soldaten abzuziehen, doch ist unklar, wo die Kräfte reduziert werden. Deshalb richtet sich der geplante Abzug der ersten deutschen Soldaten danach, wie stark die Amerikaner ihre Truppe im Norden verkleinern. So ist nach wie vor völlig offen, ob tatsächlich Bundeswehrsoldaten wie geplant vor Weihnachten heimkehren werden. Vor knapp einem Jahr hatte sich Außenminister Guido Westerwelle mit der Terminierung des Abzugsbeginns "Ende 2011" gegen den damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg durchgesetzt, dem er jedoch die Einschränkung zugestehen mußte, "soweit die Lage dies erlaubt". [5]

Indessen scheiden sich die Geister, wie es um die Lage tatsächlich bestellt ist. Nach offizieller Einschätzung der sogenannten internationalen Schutztruppe ISAF hat sich die Situation im Laufe des Jahres deutlich verbessert, zumal die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die Afghanen planmäßig angelaufen sei. Die Realität sieht anders aus. Ein aktueller UN-Bericht listet pro Monat insgesamt über 2100 Gewalttaten auf. Allein zwischen Juni und August starben dabei an die tausend Zivilisten. Selbst die westlichen Ausländer trauen ihren eigenen Versprechen von Sicherheit und Stabilität schon lange nicht mehr. Diplomaten mußten bereits vor Jahren auf ihre Botschaftsgelände ziehen. Nach zahlreichen Anschlägen gleichen die Botschaften Festungen, die mit Mauern und Sprengschutzwällen von der Außenwelt abgeschirmt sind. Zu Terminen fahren Botschafter nur mit ganzen Teams von Personenschützern. Auch Präsident Hamid Karsai kann sich in seinem eigenen Land nicht frei bewegen. Er wurde mehrfach zum Ziel von Anschlägen, zu denen es auch immer wieder in der Nähe seines Amtssitzes in Kabul kommt. [6]

In den vergangenen Wochen haben Aufständische mehrfach spektakuläre Anschläge in Kabul verübt. Expräsident Burhanuddin Rabbani, der als Vorsitzender des Hohen Friedensrates im Auftrag Karsais mit dem Widerstand verhandeln sollte, fiel in seinem Haus im Kabuler Diplomatenviertel einem Anschlag zum Opfer. Wenige Tage vorher waren die US-Botschaft und das ISAF-Hauptquartier beschossen worden, wobei der Angriff erst nach mehr als 20 Stunden niedergeschlagen werden konnte. Selbst nach dem Beschuß ihres Hauptquartiers hielt die NATO-geführte ISAF an ihrer Analyse fest, daß sich die Sicherheitslage verbessert habe und es gelungen sei, "den Trend der Vorjahre zu brechen". US-Botschafter Ryan Crocker tat den Angriff auf die Botschaft verächtlich als "Belästigung" ab: "Wenn das alles ist, was sie draufhaben, dann ist das eigentlich ein Zeichen ihrer Schwäche." Dreister könnte die Leugnung des Offensichtlichen kaum sein.

Fußnoten:

[1] http://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/402144_Supermacht-geraet-ins-Wanken.html

[2] http://www.nytimes.com/2011/10/05/world/asia/taliban-using-modern-means-to-add-to-sway.html

[3] http://newsticker.sueddeutsche.de/list/id/1214160

[4] http://www.derwesten.de/nachrichten/politik/Afghanistan-Krieg-ohne-Ende-id5130174.html

[5] http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=55&no_cache=1&tx_ttnews%5Btt_news%5D=121703&cHash=f141bd42e117f94bf9935487038c879a

[6] http://www.kleinezeitung.at/nachrichten/politik/aussenpolitik/2846541/afghanistan-

7. Oktober 2011