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KRIEG/1515: Botschaft der Aufständischen in Afghanistan zum 11. September (SB)



Die Aufständischen in Afghanistan haben den Vereinigten Staaten zum zehnten Jahrestag der Anschläge von New York und Washington eine Botschaft geschickt. Wie es in einer im Internet veröffentlichten Mitteilung hieß, müßten die amerikanischen "Kriegstreiber" aufhören, für ihre kolonialen Ziele das Blut der Afghanen zu vergießen. Diese besäßen das Durchhaltevermögen, einen langen Krieg zu führen. Mit einer landesweiten Erhebung werde man "die Amerikaner in den Mülleimer der Geschichte werfen", wie man andere Imperien in der Vergangenheit dorthin befördert habe. Bei den Anschlägen vom 11. September 2001 hätten Afghanen keine Rolle gespielt. Die US-Regierung habe dennoch die Anschläge als Vorwand mißbraucht, "das Blut von Zehntausenden unglücklicher und unschuldiger Afghanen zu vergießen, und die Gräueltat dauert an". [1]

Am 7. Oktober 2001 griff eine US-geführte Koalition das Land an, nachdem sich die Taliban geweigert hatten, Osama bin Laden auszuliefern. Aus heutiger Geschichtssicht dürfte kaum bestritten werden können, daß die Angriffskriege gegen Afghanistan und den Irak von langer Hand geplant waren und unter fingierten oder fabrizierten Vorwänden vom Zaun gebrochen wurden. Auch die angeführten Gründe für diese Feldzüge im Rahmen des westlicherseits proklamierten "Kriegs gegen den Terror" unterlagen im Laufe der Jahre einer bemerkenswerten Veränderung. Heute scheut sich in Europa und den USA niemand mehr, Kriegsziele wie den Ausbau geostrategischer Positionen, den Zugriff auf Ressourcen und die Sicherung von Handelswegen unverhohlen auszuweisen und offensiv zu vertreten. Allein im vergangenen Jahr wurden nach offiziellen Angaben 2.777 afghanische Zivilisten getötet, womit diese Rate ihren höchsten Stand seit der Invasion erreichte.

Da die Faktenlage nicht zu widerlegen ist, zog sich der US-Botschafter in Kabul, Ryan Crocker, zur Verteidigung des Militäreinsatzes auf eine fadenscheinige Propagandaformel zurück. Auch in den USA würden skeptische Stimmen lauter, die fragten, warum die Streitkräfte immer noch in Afghanistan im Einsatz seien. "Der Grund dafür ist einfach, Al-Kaida ist nicht mehr in Afghanistan aktiv, und das ist so, weil wir hier sind." Bekanntlich spielen Kämpfer der Al Kaida schon seit Jahren eine so marginale Rolle im Widerstand gegen das Besatzungsregime, daß ihre nunmehr für beendet erklärte Aktivität irrelevant für die Rechtfertigung der Präsenz ausländischer Truppen ist.

Ins selbe Horn der Beschwörung eines fiktiven Bedrohungsszenarios stieß ISAF-Kommandeur John Allen, der Soldaten der NATO in einer Videobotschaft für ihren Einsatz dankte. "Sie haben dem afghanischen Volk dabei geholfen, seine Nation, eine demokratische Regierung sowie immer stärkere Sicherheitskräfte aufzubauen und gleichzeitig den Aufstand in der Region zu lähmen. Ihre Anstrengungen haben dazu gedient, die Opfer des Terrorismus zu ehren." Es gelte sicherzustellen, daß Afghanistan nie wieder ein Zufluchtsort für Al Kaida und Terroristen werde. "Es gibt noch viel Arbeit. Aber zusammen mit unseren afghanischen Partnern werden wir uns durchsetzen." Auch Allen blieb die Antwort schuldig, wozu die nach seinen Angaben mehr als 130.000 Soldaten aus 49 Staaten erforderlich sind, wo doch Al Kaida längst aus dem Land vertrieben sein soll.

Daß Afghanistan in Gestalt des Marionettenregimes Hamid Karsais eine demokratische Regierung besitze, darf bezweifelt werden. Nicht minder fragwürdig ist Allens Behauptung, es sei gelungen, immer stärkere einheimische Sicherheitskräfte aufzubauen. Vollends abwegig ist seine These, man habe den Aufstand in der Region gelähmt. Soeben sind bei einem Sprengstoffanschlag auf einen NATO-Stützpunkt in Zentralafghanistan 77 ausländische Soldaten verletzt worden. Bei dem Anschlag in der Provinz Wardak wurden zudem zwei afghanische Zivilisten getötet und 25 weitere verletzt. Die Provinzregierung sprach von mindestens drei Toten, darunter ein Übersetzer, ein afghanischer Soldat sowie ein drei Jahre altes Mädchen. [2] Bei weiteren Anschlägen kamen zwölf Menschen ums Leben, darunter ein NATO-Soldat, der bei einem Angriff von Aufständischen im Osten Afghanistans starb. Fünf Zivilisten wurden in der Provinz Kundus im Bundeswehr-Einsatzgebiet getötet, zudem starben sechs Afghanen bei einem Anschlag in der Südostprovinz Paktika.

Auch was den vielbeschworenen wirtschaftlichen Aufbau des Landes betrifft, zeichnet sich nach zehn Jahren Krieg und Besatzung ein verheerendes Bild ab. So kommt ein kürzlich veröffentlichter Bericht der International Crisis Group zum Thema "Aid and Conflict in Afghanistan" zu dem Schluß, daß es der internationalen Gemeinschaft trotz massiven militärischen und entwicklungspolitischen Engagements nicht gelungen sei, ein politisch stabiles und wirtschaftlich nachhaltiges Afghanistan aufzubauen. Die staatlichen Strukturen seien weiterhin fragil und die Regierung nicht einmal in der Lage, den Bürgern die grundlegendsten Dienstleistungen zu bieten. Dem Report zufolge haben ausländische Geber in den letzten zehn Jahren 57 Milliarden Dollar in den Wiederaufbau investiert - verglichen mit den militärischen Ausgaben einen bescheidenen Betrag. Die zivile Hilfe sei viel zu stark auf militärische Ziele ausgerichtet gewesen und zu wenig auf die Entwicklung des Landes. Sie habe nicht nachhaltige Resultate, sondern kurzfristige Erfolge im Blick gehabt, um damit den Truppenabzug zu rechtfertigen. [3]

Mohammad Azizi, ein in den USA ausgebildeter Ökonom, der mehrere Jahre für das Finanzministerium gearbeitet hat und heute an der Kabuler Universität unterrichtet, weist darauf hin, daß die Reichen in den letzten Jahren sehr viel reicher und die Armen noch ärmer geworden seien. Über ein Drittel der Bevölkerung lebt in bitterer Armut, und die Arbeitslosigkeit liegt laut offiziellen Schätzungen bei fast 40 Prozent. Korrupte Politiker, Drogenbarone und Kriegsherren haben nach den Worten Azizis Millionen in die eigenen Taschen gesteckt und auf Konten ins Ausland geschafft. Präsident Karsai und seine Verbündeten sähen den Staat als Selbstbedienungsladen. Afghanistan sei ein kriegszerstörtes Entwicklungsland und mindestens weitere zehn Jahre auf Hilfe von außen angewiesen.

Nach Angaben der Weltbank ist die afghanische Wirtschaft zu 97 Prozent von Hilfsgeldern oder von der um die ausländischen Truppen herum entstandenen Kriegswirtschaft abhängig. Die starke ausländische Präsenz habe bestimmten Branchen ein enormes Wachstum beschert, das jedoch nach Abzug ISAF-Soldaten stark zurückgehen dürfte. In den letzten zehn Jahren ist in Afghanistan auf diese Weise eine künstliche Wirtschaft entstanden, die wie ein Kartenhaus zusammenzubrechen droht. Nachbarländer überschwemmen Afghanistan mit Textilien zu Dumpingpreisen, so daß sich keine einheimische Branche entwickeln kann. Nach über dreißig Jahren Krieg ist das Land völlig von Importen abhängig, woran sich ohne eine konsequente Industrialisierung und die Einführung von Importzöllen zum Schutz der heimischen Wirtschaft auch nichts ändern wird.

Wenngleich die Strukturprobleme älter als der Angriffskrieg und die Besatzung durch westliche Mächte sind, haben diese doch die prekäre Lage weiter Teile der Bevölkerung massiv verschärft. Der Plan, Investoren anzulocken und damit Arbeitsplätze zu schaffen, ist ebenso kläglich gescheitert wie die Versicherung des Finanzministers jeder Grundlage entbehrt, man werde bis 2014 in der Lage sein, den Haushalt eigenständig zu finanzieren. Dies setzte mindestens voraus, landesweit Steuern einzutreiben, was angesichts der Sicherheitslage illusorisch ist.

Da das US-Außenministerium und USAID die mit Abstand größten Geldgeber sind, aber ihre Zahlungen voraussichtlich schon im kommenden Jahr drastisch kürzen werden, droht dem Gesundheits- und Bildungsbereich der Zusammenbruch. Was immer in einzelnen Sektoren an sozialen Verbesserungen erreicht worden sein mag, könnte binnen kürzester Fristen verschwunden sein. Afghanistan steht angesichts des wirtschaftlichen Elends vor einem noch grausameren Überlebenskampf mit um sich greifenden sozialen Unruhen und einem Rückfall in den offenen Bürgerkrieg. Da klingt es wie grausamer Hohn, wenn der US-Botschafter in Kabul und der ISAF-Kommandeur zum 11. September verkünden, man habe dem afghanischen Volk dabei geholfen, seine Nation aufzubauen.

Fußnoten:

[1] http://www.zeit.de/news/2011-09/konflikte-fast-80-nato-soldaten-bei-anschlag-in-afghanistan-verletzt-11130805/seite-2

[2] http://www.faz.net/artikel/C31325/afghanistan-tote-und-verletzte-bei-anschlag-auf-isaf-stuetzpunkt-30684605.html

[3] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/angst_vor_dem_wirtschaftlichen_kollaps_in_afghanistan_1.12409419.html

11. September 2011