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KRIEG/1457: Kriegführung inmitten der humanitären Katastrophe ... Pakistan am Haken der NATO (SB)



Nach den Angriffen der NATO auf pakistanisches Gebiet hat der Premierminister des Landes, Syed Yusuf Raza Gilani, vor dem Parlament in Islamabad eine Entschuldigung des Militärbündnisses verlangt. Seine Ankündigung, die Regierung Pakistans werde keinen Übergriff auf ihr Territorium dulden, könnte nicht unglaubwürdiger sein. Militärische Angriffe ausländischer Akteure erfolgen seit Jahr und Tag in Form unbemannter Drohnen, die vom US-Geheimdienst CIA durchgeführt werden und bei denen insgesamt mehr als 2000 Zivilisten umgekommen sind. Allein im September wurden bei 20 Drohnenangriffen mehr als 90 Personen getötet, von denen die NATO behauptet, es handle sich um "Aufständische", die sich aus Afghanistan in die pakistanischen Grenzprovinzen zurückgezogen hätten. Die US-Regierung hat Angriffe mit Kampfhubschraubern, bei denen 60 angebliche "Aufständische" getötet wurden, gar als legitimen Verteidigungsakt gerechtfertigt.

Die Regierung in Islamabad kooperiert bei den Drohnenangriffen mit den USA und steht dadurch, daß bei den jüngsten Übergriffen der NATO zwei ihrer Soldaten getötet wurden, noch mehr unter dem Druck, vor der eigenen Bevölkerung ihre Souveränität behaupten zu müssen. Dies gilt um so mehr, als immer noch 12 Millionen Menschen dringender Nothilfe bedürfen, um die Folgen der Flutkatastrophe zu bewältigen. Für Zehntausende geht es schon jetzt um das unmittelbare Überleben, da die Vorräte an Nahrungsmitteln und Trinkwasser nur für einen Bruchteil der Flutopfer ausreichen. Dies ist vor allem Folge der Armut einer Bevölkerung, die in aller Rücksichtslosigkeit und unter der Gewaltandrohung einer von US-Militärhilfe alimentierten Armee ausgeplündert wird. Laut UN-Angaben soll ein Drittel der betroffenen Kinder schon vor der Flut unterernährt gewesen sein, was ihre Chance, diese Katastrophe zu überleben, weiter verringert.

Weniger als 500 Millionen Dollar an Hilfsgeldern wurden bislang von internationalen Organisationen und Regierungen zur Verfügung gestellt, während für die Kriegführung in Afghanistan jeden Monat weit über zehn Milliarden Dollar freigesetzt werden. Die Regierung in Islamabad ist dennoch nicht gewillt, die Reichen des Landes zur Kasse zu bitten, rekrutiert sie sich selbst doch aus deren Reihen. Während die internationale Nothilfe weit hinter dem Bedarf zurückbleibt, versuchen westliche Regierungen und die von ihnen kontrollierten Weltfinanzinstitutionen Weltbank und IWF, Pakistan eine marktwirtschaftliche Radikalkur zu verordnen. Mit der Einführung einer Mehrwertsteuer und einer befristeten Erhöhung der Lohnsteuer sollen die Kosten der Krise auf die Bevölkerung umgelastet werden.

Diese Forderungen erfolgen simultan zur Ausweitung des Afghanistankriegs in der Provinz Kandahar. Bezeichnenderweise erfolgt die Offensive zu einer Zeit, in der die afghanischen Bauernfamilien die Ernte einbringen, was unter diesen Umständen nur sehr bedingt möglich ist. Beide Szenarios, die Durchführung der seit langem angekündigten Offensive in Südafghanistan und die neue Qualität militärischer Interventionen auf pakistanisches Gebiet, erschweren mithin das Überleben der betroffenen Bevölkerungen zusätzlich zu ihrer ohnehin großen Armut. Gleichzeitig wird in Europa unter Verweis auf angebliche Terroristen Al Qaidas, die in pakistanischen Lagern ausgebildet werden sollen, Terrroralarm gegeben. Bezeichnenderweise werden die zerstörerischen Anschläge, mit denen pakistanische Islamisten die eigene Bevölkerung und darunter insbesondere Schiiten angreifen, nicht in den Kontext einer angeblichen Antiterrorstrategie gestellt, die an der Eskalation der Konflikte in Pakistan maßgeblichen Anteil hat.

Mit der Kriegführung der NATO inmitten einer Region, die von permanenter Armut und einer humanitären Katastrophe epochaler Dimension geschlagen ist, bestätigt die westliche Militärallianz, wie gering ihr Interesse am Wohl der betroffenen Bevölkerungen ist. Zur Durchsetzung ihrer geostragischen und globaladministrativen Ziele geht sie über Leichen, die sie nicht nur auf direktem Weg mit ihren Waffen produziert, sondern durch die Destabilisierung eines Landes, dessen Einwohner mehrheitlich gegen die Kooperation ihrer Regierung mit den NATO-Staaten eingestellt sind. Deren Regierungen stellen sich im Sozialkampf Pakistans auf die Seite der Oligarchen und Funktionseliten, die mit der Verschärfung des Überlebenskampfs immer mehr Grund haben, Schutz bei ausländischen Mächten zu suchen.

Der soziale Charakter dieses Krieges wird den Bevölkerungen in den USA und der EU verschwiegen, weil sie ansonsten entdecken könnten, daß die angeblichen Feinde in Süd- und Zentralasien nicht minder Opfer des kapitalistischen Weltsystems als sie selbst sind. Unabhängig von den geographischen Distanzen und kulturellen Unterschieden sind die Menschen sich in dem Wunsch, ihre materiellen Bedürfnisse befriedigen zu können, weit näher, als es die Apologeten eines angeblichen Kampfes der Kulturen und Zivilisationen eingestehen wollten. In der Not der pakistanischen Flutopfer scheinen Versorgungskrisen auf, vor denen auch die Bevölkerungen hochindustrialisierter Länder nicht gefeit sind, wie über 40 Millionen US-Bürger, die immer häufiger Phasen des Hungers erleiden, belegen.

Die soziale Katastrophe im sogenannten AfPak-Gebiet ist aus menschlicher Sicht das am dringendsten zu behebende Problem. Die angeblichen Träger westlicher zivilisatorischer Werte haben jedoch nichts besseres im Sinn, als dieses Problem durch ihre Kriegführung zu negieren. Sie richtet sich mithin gegen das Lebensinteresse der in Pakistan und Afghanistan lebenden Menschen und erfüllt damit den gerne verschwiegenen Auftrag jeder Aufstandsbekämpfung, die Bevölkerung, aus deren Reihen der Feind stammt und die ihm Zuflucht und Versorgung bietet, unter massiven Druck zu setzen. Daß dieser der Sicherung eigener Verwertungsinteressen dient, indem den betroffenen Ländern Vasallenregierungen und administrative Ordnungskonzepte aufoktroyiert werden, bietet Aufschluß über die wesentliche Aufgabe westlichen Militärbündnisses.

Unlängst hat der pakistanische Journalist Ahmed Rashid, dessen Analysen zur Lage in der AfPak-Region bei westlichen Außenpolitikern in hohem Kurs stehen, eine Protektoratslösung für Pakistan vorgeschlagen. Der Wiederaufbau des Landes, der insgesamt mehr als 40 Milliarden Dollar kosten soll, die bereitzustellen westliche Regierungen bereits abgelehnt haben, sollte von einem Gremium geleitet werden, dem die Weltbank, internationale Geber, die pakistanische Armee und Finanzbürokratie sowie andere in- und ausländische Technokraten angehören. Wer mit antidemokratischen Mitteln arbeitet und behauptet, dies diene dem Wohl der Bevölkerung, der ist auch im eigenen Land autoritären Lösungen inklusive ihrer militärischen Durchsetzung nicht abgeneigt.

1. Oktober 2010