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KRIEG/1452: Produktion von Fiktionen - Informationsoperationen in Afghanistan (SB)



Die historische Erfahrung, daß eine fremde Besatzungsmacht den Krieg gegen einheimische Widerstandskräfte nicht gewinnen kann, wird offenbar auch in Afghanistan nicht widerlegt. Da die westliche Okkupation auf eine dauerhafte Präsenz am Hindukusch abzielt, doch den überwiegenden Teil ihrer Truppen zugunsten des Einsatzes an anderen Kriegsschauplätzen abziehen muß, genießt die Übertragung der Sicherheitsaufgaben an ein Statthalterregime höchste Priorität. Wie sich jedoch abzeichnet, mangelt es an den mit militärischen Mitteln durchgesetzten Voraussetzungen des sogenannten Nation Building in Gestalt einer Segmentierung und Fraktionierung, deren maßgebliche Akteure sich erfolgreich gegeneinander ausspielen und damit je nach Bedarf neutralisieren oder indienstnehmen ließen. Kurz gesagt, ist der Widerstand gegen die Besatzer - häufig unzulässig auf "die Taliban" verkürzt - trotz weitaus unterlegener Bewaffnung und Technologie auf dem Vormarsch.

Wohl wissend, daß der seit neun Jahren währende Kriegseinsatz in den Herkunftsländern der Besatzungsmächte an Tragfähigkeit zu verlieren droht, gewinnt die Hoheit über Informationsfluß, Propaganda und letztendlich Denkkontrolle in einem Maße an Bedeutung, daß Gründe, Ziele und Verlauf der bellizistischen Okkupation vollends in den Rang einer Inszenierung erhoben werden. Wie Petraeus bereits 2006 in seinem Armeehandbuch zur Aufstandsbekämpfung schrieb, hätten "die Medien unmittelbaren Einfluß auf die Einstellung ihrer maßgeblichen Rezipienten gegenüber den Aufständischen". Daher gelte es "unter Indienstnahme der Medien einen fortgesetzten Krieg der Auffassungen zwischen Insurgenten und Counterinsurgenten" zu führen. Führende Akteure der Aufstandsbekämpfung müßten "Informationsoperationen" durchführen, um "lokale, regionale und internationale Unterstützung" zu generieren. (Gareth Porter von IPS in der New York Times vom 31.08.10)

Wenngleich Propaganda seit jeher unverzichtbare Begleitmusik der Kriegsführung war, erreicht die Verfälschung im Falle Afghanistans inzwischen ein Niveau, das einer vollständigen Emanzipation des fiktiven Narrativs von den tatsächlichen Verhältnissen gleichkommt. So berief sich der deutsche Sprecher der ISAF, Brigadegeneral Josef Blotz, in einem Pressebericht vom 25. August auf geheimdienstliche Erkenntnisse, wonach die Moral der Aufständischen so niedrig sei, daß dies ihre Kampfkraft landesweit beeinträchtige. Ein Kommandeur der Taliban im Distrikt Marjah habe gegenüber seinen Mitstreitern offen eingeräumt, daß man dabei sei, den Distrikt zu verlieren und nur noch geringe Aussichten habe, den landesweiten Kampf zu gewinnen. Diese Einschätzung sei auf schwere Verluste der Taliban und deren schwindende Akzeptanz in der Bevölkerung zurückzuführen. Als IPS nachfragte, um nähere Einzelheiten in Erfahrung zu bringen, die diese Pressemitteilung erhärten könnten, verweigerte die ISAF eine Antwort.

Eine Studie der in London ansässigen Denkfabrik International Council on Security and Development (ICOS), die im Juli 522 Interviews in den Provinzen Helmand und Kandahar geführt hatte, zeichnet ein völlig anderes Bild. Demnach ging nur eine verschwindende Minderheit der Befragten davon aus, daß die Taliban die Kontrolle in Marjah verloren haben. Auch herrschte mit überwältigender Mehrheit die Auffassung vor, daß die Vorgehensweise der US-amerikanischen und NATO-Truppen schlimmer als jene der Taliban sei. Demnach muß man davon ausgehen, daß die Operation in Marjah die Aufständischen weder vertrieben, noch ihren politischen Einfluß geschmälert hat. Wohlweislich hat Petraeus die Behauptung seines Vorgängers McChrystal schlichtweg unter den Tisch fallen lassen, Kandahar werde bis Ende des Jahres gesichert sein. Überdies haben die Aufständischen im Verlauf der letzten sechs Monate ihre Präsenz im Norden des Landes deutlich ausgebaut.

Dennoch behauptete Petraeus am 15. August in einem Interview mit der BBC, man habe den Vormarsch der Taliban in Helmand, Kandahar und im Umfeld Kabuls bereits beendet und eine rückläufige Bewegung eingeleitet. Am selben Tag schrieb die Washington Post jedoch, die Kämpfer der Taliban breiteten sich "wie ein Buschfeuer in entlegene und wehrlose Dörfer im Norden Afghanistans" aus. Kurz zuvor hatte bereits die New York Times den Vorsitzenden des Provinzrats in Baghlan mit den Worten zitiert, die Lage sei "sehr ernst und werde von Tag zu Tag schlimmer". Anfang September mußte der scheidende stellvertretende Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Afghanistan, Generalleutnant Nick Parker aus Britannien, einräumen, daß man beim angekündigten raschen Erfolg in Marjah wohl zu optimistisch gewesen sei. Auch er selbst habe "ein wenig zu positiv" gedacht, als er den umgehenden Aufbau einer funktionsfähigen Zivilverwaltung in diesem Distrikt angekündigt hatte, der als Modell erfolgreicher Aufstandsbekämpfung anderen Regionen zum Vorbild dienen sollte. Ob der positive Trend, den General Parker dennoch ausgemacht haben will, in Marjah Bestand haben werde, könne man derzeit nicht mit Sicherheit sagen. (New York Times 04.09.10)

Mit Blick auf die Parlamentswahlen, die in wenigen Tagen in Afghanistan abgehalten werden, muß man daher von einer Sicherheitslage ausgehen, die sich gegenüber der Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr eher noch verschlechtert hat. Nach Angaben der Wahlbehörde bleiben mindestens 938 der landesweit 6.835 Wahllokale vor allem im Süden und Osten des Landes geschlossen, da der Wahlkampf von zahlreichen Anschlägen und Angriffen auf Kandidaten begleitet ist. Von einem regulären Urnengang kann folglich keine Rede sein. Berücksichtigt man ferner die massiven Manipulationen zugunsten Karsais bei den letztjährigen Wahlen, die nur begrenzte Reformen zur Folge hatten, ist mit einem glaubwürdigen Wahlergebnis nicht zu rechnen.

Unter diesen Umständen müßten die Wahlen verschoben werden, was die Besatzungsmächte und ihre Marionettenregierung in Kabul jedoch zu verhindern wissen. Wie Vertreter westlicher Regierungen erklärten, bestehe die afghanische Regierung auf der Abhaltung des Urnengangs, und dies sei eine Entscheidung, die man respektiere. In dieser Kumpanei sind die Rollen recht klar verteilt, denn wie man erprobt hat, versteht es Karsai, den Part des Sündenbocks zu übernehmen, ohne darüber zu Fall zu kommen. Wollte man auf eine Sicherheitslage warten, die einen regulären Urnengang zuläßt, fänden in Afghanistan auf Jahre hinaus keine Wahlen statt. Also gilt es ganz im Sinne des Oberbefehlshabers Petraeus Informationsoperationen zu gewinnen, wenn man schon militärisch und zivilgesellschaftlich keine Siege vorzuweisen hat.

6. September 2010