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KRIEG/1350: Orthodoxes Militärrabbinat predigt Vernichtungskrieg (SB)



Gemessen an dem Vorwurf, die israelischen Streitkräfte hätten im Gazastreifen diverse Kriegsverbrechen begangen, muten jüngste Berichte, die Armee werde von orthodoxen Rabbinern indoktriniert, auf den ersten Blick beinahe belanglos an. Da die Berufung auf höhere Mächte Kirche und Staat ungeachtet aller sonstigen Diskrepanzen geradezu geschwisterlich eint, wenn Herrschaftssicherung auf der Tagesordnung steht, hatte die Priesterschaft im allgemeinen nie ein Problem damit, Soldaten zu betreuen und Waffen zu segnen. Heikel ist ein solcher Pakt jedoch in Israel, und das aus mehreren Gründen. Die Armee ist als zentrale gesellschaftliche Institution in der Tat eine Schule der Nation, die nicht nur unüberwindliche Militärmacht lehren, sondern auch felsenfeste Treue zu einem Staatswesen verankern soll, das seine Taten insbesondere aus einer angeblichen Bedrohung seiner Existenz ableitet. Als der Verteidigungsminister nach dem Massaker an den Zivilisten im Gazastreifen und den ungeheuren Verwüstungen allen Ernstes behauptete, die israelischen Streitkräfte seien die moralisch hochstehendsten der Welt, war dies mehr als zynische Propaganda und dreiste Leugnung der offensichtlichen Greueltaten. Es handelte sich vielmehr um die zutiefst bornierte Proklamation der Doktrin, daß diese Armee in Verteidigung des Staates Israels handle und sich somit unmöglich eines Fehlverhaltens schuldig machen könne.

Dieser ultimative und daher gegen kritische Einwände geradezu immunisierende Anspruch stützt sich auf das Selbstverständnis der israelischen Armee, die sich als politisch neutral, säkular und human definiert. Da ihre Soldaten und Reservisten angesichts der Wehrpflicht den überwiegenden Teil der Gesellschaft repräsentieren, reproduzieren die fundamentalen Standards der Streitkräfte das ideologische Bindemittel einer ansonsten in vielerlei Hinsicht zerstrittenen und fraktionierten Nation. Hält die Kontroverse um religiöse Auslegungen, moralische Widerspruchslagen und politische Zugehörigkeiten Einzug in dieses System, droht dessen Funktionsfähigkeit und damit auch die Gewährleistung der nationalen Einheit im bislang verfochtenen Sinn in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

Sind orthodoxe Juden auch von der Wehrpflicht befreit, so heißt das keineswegs im Umkehrschluß, daß die Orthodoxie nicht längst Einzug in diesen zentralen gesellschaftlichen Sektor gehalten hätte. Seit zwei Jahrzehnten ersetzen Rekruten mit nationalreligiösem Hintergrund in zunehmenden Maße den säkularen Nachwuchs, was einerseits mit der sich ändernden demographischen Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft, andererseits aber auch mit einem gewachsenen Interesse tendentiell rechtsgerichteter Strömungen zu tun hat, auch in der Armee Fuß zu fassen. Diese Entwicklung führte zwangsläufig dazu, daß heute zahlreiche nationalreligiöse Offiziere die mittleren Dienstgrade erreicht haben und einige sogar Generäle geworden sind. Welche Auswirkungen diese Entwicklung im einzelnen hat, ist kaum abzuschätzen, da es sich um recht unterschiedliche Spielarten nationaler Gesinnung und religiöser Überzeugung handeln dürfte, die nicht zwangsläufig im Wehrdienst zum Tragen kommen müssen oder diesen maßgeblich beeinflussen.

Besorgniserregend ist jedoch, daß sich Brigadegeneral Avichai Rontzki und das ihm als Oberrabbiner unterstehende Militärrabbinat nicht wie in der Vergangenheit damit begnügen, koshere Speisen und andere glaubensbedingte Erfordernisse zu gewährleisten, sondern zur aktiven religiösen Schulung der Soldaten übergehen. Rontzki war in seinen derzeitigen Rang befördert worden, um die Vertrauenskrise zwischen den Streitkräften und der nationalreligiösen Rechten nach der Räumung der Siedlungen im Gazastreifen von 2005 zu kitten. Der Christian Science Monitor (09.08.09) zitiert einen Reservisten, der unmittelbar vor der Operation "Gegossenes Blei" auf Einladung eines Militärrabbiners an einem Gespräch teilgenommen hatte. Darin wurde den Soldaten mitgeteilt, daß die "Heiligkeit des Volkes Israel" sie schützen werde, wenn sie in die Schlacht zwischen den "Kindern des Lichts" und den "Kindern der Finsternis" zögen. Kurz nach dem Angriff auf den Gazastreifen hatte die Zeitung Haaretz bereits Auszüge eines Pamphlets veröffentlicht, das in Militärsynagogen erhältlich war. Die Schriften wurden von Rontzkis Abteilung für "jüdisches Bewußtsein" gedruckt und enthielten unter anderem die Aufforderung, daß die Soldaten gegenüber den Palästinensern keine Gnade walten lassen sollten.

Da selbst an religiösen Unterweisungen interessierte Rekruten nicht ausnahmslos Gefallen an einem messianischen Feldzug fanden, sondern darin einen Verstoß gegen die ethischen Grundsätze und den Agnostizismus der Streitkräfte sahen, wurde die Kontroverse publik. Die Armeeführung mauerte mit der Behauptung, man habe es mit seltenen Einzelfällen zu tun, die niemals die während der gesamten Ausbildung vermittelten Werte aufwiegen könnten. Dagegen wäre allerdings einzuwenden, daß die beiderseitigen Werte offenbar doch nicht sehr weit auseinanderliegen können, wenn die Soldaten bekanntermaßen im Gazastreifen mit und ohne geistliche Unterweisung genau das getan haben, wozu sie von seiten orthodoxer Rabbiner aufgefordert wurden, nämlich gnadenlos gegen die Nichtgläubigen vorzugehen. Natürlich muß die Armee um ihre hochgehaltene Moral fürchten, wenn die nationalreligiöse Fraktion in den Streitkräften kraft göttlichen Willens offen proklamiert, was man im Umgang mit den Palästinensern ohnehin praktiziert, aber vehement bestreitet. Den israelischen Truppen war in Vorbereitung des Angriffs nachdrücklich befohlen worden, eigene Verluste um jeden Preis zu vermeiden, also präventiv alles und jeden zu vernichten. Diesen Befehl haben sie skrupellos und erfolgreich umgesetzt, was zur Befürchtung Anlaß gibt, daß der Schulterschluß zwischen göttlicher und weltlicher Doktrin, das Palästinenserproblem im Gazastreifen durch Vernichtung zu lösen, längst auf fundamentaler Ebene erfolgt ist.

18. August 2009