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KRIEG/1303: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg in Gaza (SB)



Wer sich bei der Beantwortung der Frage nach den Gründen für den israelischen Angriff auf den Gazastreifen darauf beschränkt, den Raketenbeschuß auf israelisches Gebiet als Anlaß zur Selbstverteidigung auszuweisen, ignoriert die seit bald drei Jahren erfolgende Nichtanerkennung des Ergebnisses der palästinensischen Parlamentswahlen im Januar 2006 durch Israel und seine Verbündeten. Nachdem diese von internationalen Beobachtern als frei und fair attestierte Wahl nicht das von den USA und der EU erwünschte Ergebnis eines Sieges der Fatah erbracht hat, sondern das Ende der langjährigen Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde durch die säkulare Partei des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, verlegte sich die sogenannte internationalen Gemeinschaft, repräsentiert durch das Nahostquartett, darauf, die neue palästinensische Regierung in krasser Mißachtung ihres demokratischen Wertekodex diplomatisch zu boykottieren.

Da die an die Hamas gestellten Vorbedingungen für eine Anerkennung ihrer Regierungsverantwortung durch USA und EU von Israel nicht auf reziproke Weise akzeptiert wurden, kommt ihnen lediglich die Funktion eines zweckdienlichen Vorwands zu, mit dem von der Subordination der Palästinenser unter das Diktat der israelischen Besatzungspolitik abgelenkt werden sollte. Die bald darauf einsetzenden, angeblich gegen die Hamas gerichteten ökonomischen Sanktionen belegten die im Gazastreifen praktisch eingesperrte Bevölkerung schon vor drei Jahren mit einer völkerrechtswidrigen Kollektivstrafe. Schon im Frühjahr 2006 kam es aufgrund der Schließung der Grenzen durch Israel und die damit einhergehende Abschottung des Übergangs nach Ägypten zu Versorgungsproblemen der weitreichend von humanitären Hilfslieferungen abhängigen Bevölkerung des Gazastreifens.

Der von palästinensischen Gefangenen in israelischer Haft formulierte Friedensplan, der die Einigung der zerstrittenen Parteien Fatah und Hamas unterstützen sollte, wurde von der israelischen Regierung ignoriert. Das Angebot der Hamas vom 15. Juni 2006, den von ihr zuvor 16 Monate lang eingehaltenen Waffenstillstand zu erneuern, wenn Israel seine Angriffe auf den Gazastreifen und das Westjordanland einstellt, wurde mit der Forderung zurückgewiesen, daß die Hamas zuerst die Raketenangriffe einstellen müsse. Bei militärischen Übergriffen Israels wurden im Frühjahr 2006 bereits Dutzende von Palästinensern getötet, unter ihnen sieben Mitglieder einer Familie, die am am 9. Juni am Strand von Gaza von einer israelischen Granate getroffen wurden. Dies wiederum wurde mit Raketenangriffen auf israelisches Gebiet und schließlich mit der Tötung zweier israelischer Soldaten und der Gefangennahme eines dritten Mitglieds der israelischen Streitkräfte durch ein palästinensisches Kommandounternehmen am 25. Juni 2006 beantwortet.

Anstatt auf die Forderung der Palästinenser einzugehen, im Austausch gegen den Soldaten Gilad Shalit 95 Frauen und 313 Jugendliche, die zu dieser Zeit neben rund 9500 politischen Gefangenen in israelischer Haft saßen, freizulassen, nehmen die nun einsetzenden Maßnahmen Israels die Dimension eines ausgewachsenen Kriegs an. Sie gehen einher mit der Verhaftung von 29 Abgeordneten und acht Ministern der Hamas im Westjordanland, so daß an eine bislang schon durch die Fatah weitgehend verhinderte normale Regierungstätigkeit nicht mehr zu denken ist.

Nun wird der 2005 im Rahmen des Disengagement-Plans des israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon niemals wirklich freigegebene Gazastreifen mit Artilleriebeschuß, Bombenangriffen und der Zerstörung wichtiger Versorgungseinrichtungen wie des einzigen Elektrizitätswerks und zahlreicher Wasserzisternen überzogen. Noch bevor der Zweite Libanonkrieg am 13. Juli mit massiven israelischen Bombenangriffen beginnt, sterben im Gazastreifen über 50 Palästinenser bei israelischen Übergriffen. Bei der Operation "Sommerregen" regneten täglich zwischen 200 und 250 Artilleriegranaten in den dicht besiedelten Gazastreifen, zudem wurden bei diesem kaum beachteten Krieg 220 israelische Bombenangriffe geflogen. Von Anfang Juli bis Ende Oktober 2006 töteten die israelischen Streitkräfte jeden Monat durchschnittlich 93 Palästinenser im Gazastreifen und im Westjordanland. Sie starben dafür, daß sie gewagt hatten, eine eigenständige demokratische Entscheidung zu treffen und sich darüber hinaus einer aus diplomatischer Isolation, ökonomischer Strangulierung und militärischen Übergriffen bestehenden Sanktionspolitik zu widersetzen.

Diese Bilanz des ersten Jahres der Hamas als palästinensische Regierungspartei schließt an eine Leidensgeschichte der Verneinung politischer Freiheiten und essentieller Lebensrechte an, die alle Palästinenser seit dem 1967er-Krieg zu erleiden haben. Der Gazastreifen war allerdings in besonderer Weise betroffen, da er sich schon während des Oslo-Prozesses zusehends in ein streng bewachtes Gefängnis verwandelte, das nur privilegierte Palästinenser verlassen konnten. Als die israelische Regierung im Juni 2002 die Deportation der Familien von Selbstmordattentätern aus dem Westjordanland in den Gazastreifen beschloß, bezeichnete der bekannte israelische Kommentator Nahum Barnea das Gebiet als "Strafkolonie" Israels, als seine "Teufelsinsel, sein Alcatraz" (Yediot Aharonot, 21.06.2002, laut Tanya Reinhart "Operation Dornenfeld", Bremen 2002).

Der Abzug der israelischen Siedler und Soldaten aus dem Gazastreifen im Dezember 2005 war das Ergebnis eines Schachzugs des damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon, der keineswegs eine Befreiung der Palästinenser zur Selbstregierung zur Folge haben sollte. Da der Politik des unilateralen Disengagements die Negation der Palästinenser als Verhandlungspartner zugrundelag, konnte Sharon die Siedlungspolitik im Westjordanland konsolidieren, ohne einen wirklich schmerzhaften Gebietsverlust hinnehmen zu müssen. Mit seinem Zugeständnis, den Gazastreifen zu räumen, hat Sharon die Legitimität der eigenen Besatzungspolitik erhöht und den Regierungen der USA und EU einen Grund an die Hand gegeben, dieser gegenüber noch untätiger als zuvor zu bleiben. Bei den überaus positiven Reaktionen in aller Welt auf das vorgebliche Ende der Besatzungspolitik im Gazastreifen wurde zielgerichtet ignoriert, daß aus diesem einseitigen Schritt kein tragfähiger Frieden, sondern die noch wirksamere Unterdrückung palästinensischer Interessen resultieren sollte.

Hätte man die Palästinenser in Verhandlungen um den israelischen Abzug aus Gaza einbezogen, dann hätten auch die Siedlungen im Westjordanland sowie die Jerusalem- und Flüchtlingsfrage zur Disposition gestanden. An einer umfassenden Friedenslösung, die den Palästinensern die 1967 von Israel besetzten Gebiete sowie Ost-Jerusalem als Territorium für einen eigenen Staat zugesichert sowie eine angemessene Regelung für das Rückkehrrecht ihrer Flüchtlinge zugestanden hätte, bestand in Israel damals kein Interesse, und das gilt für heute nicht minder. Die durch den politischen Boykott der Hamas-Regierung erreichte Spaltung der Palästinenser in zwei Lager hat deren Position so geschwächt, daß sie froh sein sollen, wenn sie sich irgendwann in einem international verwalteten Protektorat von Gnaden Israels wiederfinden. Daß die Palästinenser sich die in ihrem über 40 Jahre währenden Befreiungskampf erlittenen Schmerzen zu einem solch niedrigen Preis abkaufen ließen, ist allerdings nicht anzunehmen.

5. Januar 2009