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REPRESSION/1699: Mordfall Lübcke - NSU-verstrickt ... (SB)



Und das ist eine der zentralen Fragen, die nicht beantwortet sind: Warum konnten solche Personen jahrelang agieren, ohne dass sie im Fokus und auf dem Schirm der hessischen Sicherheitsbehörden waren?
Günter Rudolf (SPD-Fraktion im hessischen Landtag) [1]

Am 1. Juni 2019 wurde Walter Lübcke auf der Terrasse seines Wohnhauses in Wolfhagen-Istha erschossen. Der Kasseler Regierungspräsident war wegen seiner Haltung in der Flüchtlingsfrage zur Haßfigur der rechtsextremistischen Szene geworden. Elf Monate nach dem Mord erhebt die Bundesanwaltschaft Anklage, wobei dieser Fall juristisch wie politisch weit über sich hinausweist. Weitere den Angeklagten zugeschriebene Taten und Verbindungen zum NSU-Komplex sind inzwischen den Medien und der Öffentlichkeit soweit bekannt, daß die im Kontext des NSU systematisch ausgeblendeten Kernfragen mit neuer Wucht hervorbrechen. Bislang wurde die Version durchgesetzt, im Umgang des Staatsschutzes mit der extremen Rechten sei ein kolossales Behördenversagen am Werk gewesen. Dies führte unmittelbar dazu, eine effizientere geheimdienstliche und polizeiliche Arbeit wie auch deren engere Verschränkung einzufordern und umzusetzen.

Es steht zu befürchten, daß Bundesanwaltschaft und Gericht auch im Fall Lübcke versuchen werden, sich auf die These von Einzeltätern zu fokussieren und deren durchgängige Verbindung zu einem aktiven rechtsextremen Umfeld unter dem Vorwand zu bestreiten, sie seien zeitweise aus dem Fokus der Sicherheitsbehörden verschwunden. Dem gilt es mit der Frage zu begegnen, in welchem Maße der Staatsschutz die rechtsextremen Umtriebe nicht nur beobachtet hat, sondern auch in sie verstrickt war. Im engeren Umfeld des NSU waren mehr als ein Dutzend V-Personen des Verfassungsschutzes plaziert, was die Annahme nahelegt, daß das Trio nie vollständig untergetaucht war und an der Leine des Geheimdienstes instrumentalisiert wurde. Angesichts der Vernetzung der Angeklagten des Lübcke-Prozesses kann von der weithin geforderten lückenlosen Aufklärung nur dann die Rede sein, wenn die behördliche Kenntnis und Intervention restlos und zweifelsfrei offengelegt wird.

Im Februar 2020 erklärte der hessische Innenminister Peter Beuth in einer Regierungserklärung zur inneren Sicherheit in Hessen im Wiesbadener Landtag: "Kein innenpolitisches Ereignis hat das Jahr 2019 so sehr geprägt wie der grausame Mord an unserem Regierungspräsidenten Doktor Walter Lübcke. Weil die strafrechtlichen Ermittlungen sofort mit Hochdruck eingeleitet wurden, und dank der besonderen Expertise der hessischen Polizei in der DNA Analysetechnik sowie der akribischen Ermittlungsarbeit kann der Prozess gegen den Tatverdächtigen jetzt bald beginnen." Was Beuth an konsequentem behördlichen und politischen Handeln nahelegt, steht in krassem Widerspruch zu dem zögerlichen bis dementierenden Umgang mit dem Verdacht einer rechtsextremen Täterschaft unmittelbar nach dem Mord an Lübcke.

Beuth steht unter Druck, da es offensichtlich eine Verbindung zum NSU-Komplex gibt. Der Innenminister mußte bereits im Herbst 2019 einen Konnex zwischen dem ehemaligen hessischen Verfassungsschützer Andreas Temme und dem mutmaßlichen Lübcke-Mörder Stephan Ernst einräumen. Temme sei mit dem Rechtsextremisten Stephan E. "dienstlich befasst" gewesen, erklärte der CDU-Politiker im Innenausschuß des hessischen Landtags auf eine gezielte Nachfrage von SPD-Abgeordneten. Temme war als Verfassungsschützer 2006 am Tatort in Kassel, als Halit Yozgat, der Betreiber eines Internet-Cafés, nach offizieller Version vom NSU ermordet wurde. Um kaum eine Figur hat sich im Zuge der Aufklärungsarbeiten zum NSU solch eine Menge an Fragen aufgeworfen, was mögliche Verstrickungen der Behörden in rechte Gewalttaten angeht. Temme bestreitet zwar, den Mord beobachtet oder in dem kleinen Internet-Café überhaupt etwas von ihm mitbekommen zu haben. Doch viele Abgeordnete des Wiesbadener Landtags, sowohl aus Regierungs- als auch aus Oppositionsfraktionen, hegen bis heute den Verdacht, daß es sich anders verhalten hat.

Eine Rekonstruktion des Tatorts durch unabhängige Experten hat gezeigt, daß Temme das hinter dem Tresen liegende Mordopfer gesehen haben muß. Überdies ist nach heutigem Erkenntnisstand davon auszugehen, daß sich der Täter bereits im Café befunden hat. Da nur zwei Personen den Tatort verlassen haben und eine von ihnen von sich aus der Polizei eine Zusammenarbeit angeboten hat, aber nicht verdächtigt wurde, bleibt nur Temme als wahrscheinlichster Täter übrig. Dies als Verdacht zur Sprache zu bringen, berührt jedoch Sphären, die der Staatsschutz unter Verweis auf geheime Erkenntnisse, die auch geheim bleiben müssen, niemals von sich aus preisgeben wird.

Um der Frage nachzugehen, wie eng die Verbindung zwischen Stephan Ernst, Markus Hartmann und Andreas Temme tatsächlich war, wollen die Wiesbadener Parlamentarier nach Begutachtung der Anklageschrift der Bundesanwaltschaft dazu einen Untersuchungsausschuß im Landtag einsetzen. Rund um Kassel hat sich ab 1990 eine aktive Neonaziszene etabliert, die mutmaßlich den Mord an Halit Yozgat 2006 ebenso unterstützte wie jenen an Walter Lübcke. Dazu Günter Rudolf, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion im hessischen Landtag: "Und das ist eine der zentralen Fragen, die nicht beantwortet sind: Warum konnten solche Personen jahrelang agieren, ohne dass sie nicht im Fokus und auf dem Schirm der hessischen Sicherheitsbehörden waren?"

Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Linken im hessischen Landtag, fragt zudem, warum Akten über Stephan Ernst gelöscht worden sind, obwohl er als gefährlich galt: "Die Personenakten des oder der mutmaßlichen Lübcke-Mörder, die im Verfassungsschutz intern gelöscht wurden, obwohl die als Neonazis über Jahrzehnte hinweg aktiv waren. Die Rechtfertigung des Landesamtes für Verfassungsschutz lautet noch immer: Die waren über fünf Jahre nicht auffällig, die sind abgekühlt. Diese Aussage verhöhnt nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch den seinerzeitigen Verfassungsschutzpräsidenten Eisvogel, der Stefan E. noch Ende 2009 in einem internen Vermerk als brandgefährlich bezeichnete. Ich frage mich: Was haben die gemacht danach in diesem Amt? Haben die das beiseitegelegt, 'interessiert uns nicht', so kommt es mir gerade vor."

Wie die Aussagen dieser beiden Abgeordneten abermals zeigen, hat das Konstrukt eines angeblichen Behördenversagens eine Schranke errichtet, die darüber hinausgehende Fragen geradezu tabuisiert. Heute betont die schwarz-grüne Regierungskoalition in Hessen, sie habe die Bekämpfung des Rechtsextremismus ganz oben auf die politische Agenda gesetzt. Das war vor wenigen Jahren noch ganz anders, als beispielsweise die CDU im NSU-Untersuchungsausschuß 2014 erklärte, in Nordhessen gebe es keine rechtsextreme Szene. Beuth geht in die Offensive und hat im Landtag einen weiteren Anstieg rechtsextremer Straftaten nach dem Lübcke-Mord geschildert. Der Mord an Lübcke habe im vergangenen Jahr zu zahlreichen weiteren Straftaten in der rechtsextremistischen Szene in Hessen geführt. Mehr als 900 rechtsmotivierte Delikte wurden polizeilich registriert, dies war ein Anstieg von 50 Prozent. Viele Delikte im Internet zielten auf den Regierungspräsidenten selbst ab, aber es wurden auch fast 50 politische Amts- und Mandatsträger Opfer von Haß, Hetze, Beleidigung.

"Wir haben den Druck auf Rechtsextremisten in Hessen deutlich erhöht und werden ihn auch 2020 weiter hochhalten", versichert der Innenminister. Die hessische Polizei hat beim LKA Wiesbaden eine "Besondere Aufbauorganisation" mit landesweit 140 Ermittlern eingerichtet, um die rechtsextreme Szene und rechte Straftäter schärfer ins Visier zu nehmen. Eine Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, die bislang gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt auf Ermittlungen im Darknet spezialisiert war, befaßt sich nun auch mit strafbarer Haß-Kommunikation im gesamten Internet. Das und manches mehr scheint die Annahme nahezulegen, neben dem verschärften Vorgehen des Verfassungschutzes unter seinem neuen Präsidenten Thomas Haldenwang gegen den Rechtsextremismus finde auch in Hessen eine radikale Kehrtwende statt.

Doch wie schon beim Umgang mit dem NSU-Komplex ist abermals Vorsicht geboten. Nach dem ersten Mord an einem deutschen Politiker durch Rechtsextremisten in der Geschichte der Bundesrepublik - dem seit 1990 mehr als 200 lange Zeit ignorierte Morde an migrantischen Menschen vorausgegangen waren - besteht für die Staatsräson akuter Handlungsbedarf. Überdies folgten die Anschläge von Halle und Hanau, die den Druck seitens der Öffentlichkeit weiter erhöhten, den rechten Vormarsch zu stoppen. Dieser wird nun bis hin zum "Flügel" der AfD lektioniert, wie scharf die Krallen des Sicherheitsstaats sein können, wenn sie denn ausgefahren werden. Mag dieses Manöver wie eine Flucht nach vorn anmuten, so birgt es doch zugleich den bedeutsamen Ertrag, Geheimdienste, Polizeien und Politik von dem Verdacht zu läutern, sie trieben mit der extremen Rechten ein doppelbödiges Spiel.

Das dürfte inzwischen jedoch nicht mehr so einfach sein. Die antifaschistische Recherche-Website Exif legt in einer ausführlichen Analyse Verbindungen, Parallelen und persönliche Kontinuitäten zwischen den Morden an Halit Yozgat und Walter Lübcke dar. Ihren Erkenntnissen zufolge bestand der harte Kern der Kasseler Neonaziszene, der auch Stephan Ernst und Markus Hartmann angehören, aus nie mehr als 50 Personen. Allein der hessische Verfassungsschutz, nämlich Andreas Temme, sein Vorgesetzter und eine Kollegin, führten um das Jahr 2006 in dieser relativ kleinen Szene mindestens sieben V-Personen, wovon bis auf eine keine namentlich bekannt ist.

In einer Sitzung des "Ausschusses für Inneres und Heimat" am 15. Januar 2020 wurde über den aktuellen Stand der Ermittlungen im Mordfall Walter Lübcke berichtet. Exif zufolge antwortete darin Cornelia Zacharias von der Generalbundesanwaltschaft auf die Frage, ob Markus Hartmann Informant einer Behörde gewesen sei, sie wisse es zwar, sei aber nicht befugt, darüber Auskunft zu geben. "Zuvor jedoch hatte ein Vertreter der GBA auf die Frage, ob Stephan Ernst Spitzel gewesen sei, ohne Umschweife gesagt, dass man dies seitens seiner Behörde ausschließen könne. Dieses Statement blieb bei Markus Hartmann aus." [2]

Es ist daher unmöglich zu sagen, wo die Neonaziszene aufhört und der Staat beginnt. Andreas Temme, der in seinem Heimatdorf den Spitznamen "Klein-Adolf" hatte, log mehrfach vor Ermittlungsbehörden, verweigerte Aussagen vor Untersuchungsausschüssen oder vor Gericht und gab stets nur zu, was nicht mehr zu leugnen war. Er wird vom Verfassungsschutz und der Landesregierung unter Ministerpräsident Volker Bouffier gedeckt, der zur Zeit des Yozgat-Mordes Innenminister war. Temme wechselte nach dem Kasseler NSU-Mord seinen Arbeitsplatz und arbeitet seither im Regierungspräsidium von Kassel, dem Walter Lübcke vorstand.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/anklage-im-fall-walter-luebcke-ermordet-wegen-humaner.724.de.html

[2] www.wsws.org/de/articles/2020/03/04/lueb-m04.html

30. April 2020


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