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REPRESSION/1694: USA - vermehrter Schußwaffeneinkauf ... (SB)



Die Chance, mit einer Schußwaffe ermordet zu werden, ist in den USA gut 11mal so hoch wie in Deutschland. Mehr als ein Drittel der rund 36.000 durch Schußwaffen erfolgten Tötungen sind Morde, fast zwei Drittel Suizide, darunter auch viele Fälle, die mehr als eine Person betreffen. Rund 100.000 Personen erleiden jedes Jahr in den USA Schußwaffenverletzungen, und das sind Zahlen, die den Normalzustand der von tiefen sozialen Gräben durchzogenen US- Gesellschaft beschreiben. Der aktuelle Ausnahmezustand konfrontiert viele Menschen daher mit Gefahren, die aus der kaum mehr gegebenen Möglichkeit resultieren, sich vor allem aus dem Weg gehen zu können.

Über den Run auf die Waffengeschäfte in den USA zu Beginn der Coronakrise im März wurde in aller Welt berichtet. So hat das FBI im März 3,7 Millionen Backgroundchecks bei KäuferInnen von Schußwaffen durchgeführt, das sind 1,1 Millionen mehr als im März 2019. Allein am 21. März wurden 210.000 der vorgeschriebenen Überprüfungen vorgenommen, so viele wie nie zuvor an einem Tag. Zwei Millionen Schußwaffen sollen in diesem Monat laut dem FBI verkauft worden sein, dazu gehören auch viele halbautomatische Gewehre, die als ausgesprochene Angriffswaffen gelten. Zwar fallen in den meisten Bundesstaaten Waffengeschäfte unter die Branchen, die während der Coronakrise geschlossen bleiben müssen, doch in einigen Staaten wurde verfügt, daß der Verkauf weitergehen soll, weil Schußwaffen zur unverzichtbaren Grundversorgung gehörten.

In der Berichterstattung wird meist darauf verwiesen, daß die Menschen sich mit dem Kauf neuer Waffen und dem Aufstocken ihrer Munitionsbestände auf den Zerfall der staatlichen Ordnung, auf Plünderungen und andere Formen der Gewalt einstellen. Viele Organisationen, die die Einschränkung des freien Waffenbesitzes zu ihrem politischen Ziel erklärt haben, verweisen jedoch auf die Gefahr, daß Vorfälle häuslicher Gewalt innerhalb der Familien und Haushalte während der Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch den Schußwaffenbesitz drastisch zunehmen könnten. Sie stützen sich dabei auf die Ergebnisse empirischer Studien, die die Verfügbarkeit von Schußwaffen in einem Haushalt dafür verantwortlich machen, daß die Zahl damit ermordeter PartnerInnen seit 2010 zunimmt, während Morde mit anderen Waffen wie Messern zugleich abnehmen.

Zwar kommt es auch vor, daß Frauen männliche Partner mit Schußwaffen umbringen, doch die mit Abstand, das heißt über 90 Prozent, größere Opfergruppe ist weiblichen Geschlechts [1]. Zu Morden kommt es nicht nur unter zusammenlebenden Ehepaaren oder Beziehungen, sondern auch ehemalige Partner werden zu Tätern. Hinzu kommen die vielen Fälle von Suiziden, bei denen vor allem Männer ihre Frauen, Kinder und sich selbst umbringen, des weiteren kommt es zu tödlichen Unfällen, wenn Kinder die nicht sicher verwahrten Waffen ihrer Eltern in die Hände bekommen [2]. Gewalt innerhalb intimer Beziehungen wird erwiesenermaßen durch die Verfügbarkeit von Schußwaffen wahrscheinlicher, was nicht erstaunen kann, wenn die hohe Anzahl von Vergewaltigung innerhalb von Ehen oder eheähnlichen Partnerschaften in Rechnung gestellt wird.

In mehr als der Hälfte der als Massenschießerei kategorisierten Mordtaten, als die Angriffe gelten, denen mehr als vier Personen zum Opfer fallen, der letzten zehn Jahre wurde ein Beziehungsproblem als Tatmotiv ausgemacht. Das zieht häufig Kinder in Mitleidenschaft, aber auch Behinderte und LGBTIQ-Menschen. Darüber hinaus wurde eine Million heute lebender Frauen in den USA bereits einmal von einem Partner angeschossen, und 4,5 Millionen Frauen mußten erleben, von ihrem Partner mit einer Schußwaffe bedroht worden zu sein.

All dies wird in Zeiten häuslicher Quarantäne zu einem Problem, das auf eine Weise eskalieren könnte, die in erster Linie Frauen und Kinder akut bedroht. Im Schatten der Pandemie wachsen soziale Probleme an, die durch die problematische ökonomische Lage vieler Partnerschaften und Familien vielleicht nicht verursacht, aber bestimmt verstärkt werden. Wessen Bewegungsmöglichkeiten auf eine enge Wohnung begrenzt sind und wer darüber hinaus nicht genug zu essen hat, ist mit einer Situation potentieller Anspannung und Aggression konfrontiert, die schlimmstenfalls in gegenseitige Feindseligkeit mündet.

Die Frage, was Menschen tatsächlich miteinander zu tun haben, was sie verbindet und entzweit, die in institutionalisierten Formen wie Ehen und Familien zusammenleben, stellt sich häufig erst in einer Enge, die sie nicht selbst gewählt haben und der sie nicht ausweichen können. Herauszufinden, welche gesellschaftlichen Entwicklungen in erster Linie für diese Misere verantwortlich zu machen sind, wäre eine Möglichkeit, damit anders umzugehen, als das eigene Problem im anderen Menschen zu verorten.


Fußnoten:

[1] https://everytownresearch.org/reports/guns-intimate-partner-violence/

[2] https://time.com/5702435/domestic-violence-gun-violence/

13. April 2020


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