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REPRESSION/1649: China - Kontroll- und Regulationsgewinn ... (SB)



Sie wollen das benutzen, um ihre Wirtschaft in Ordnung zu bringen. Das ist ein Versuch, den Markt - also uns und unsere Unterlieferanten - dazu zu bringen, sich an die Gesetze zu halten. Im Grunde ein ganz smarter Ansatz, aber er hat viele Fallstricke.
Jörg Wuttke (Präsident der EU-Handelskammer in Peking) [1]

Daß die chinesische Staatsführung dem letztgültigen Ziel jeder Herrschaft, sie unumkehrbar und damit final zu sichern, mit Riesenschritten näherzukommen scheint, nötigt der Konkurrenz gleichermaßen Respekt ab, wie es massive Verlustängste auslöst. Mehr als nur klammheimlich sinnieren auch hierzulande Protagonisten konsolidierter Staatsgewalt neidvollen Blickes darüber, wie zügig es sich doch im chinesischen Staatskapitalismus von oben nach unten durchregieren läßt. Während bei uns alles und jedes rechtsstaatlich durchgekaut werden müsse, schaffe dort die Parteiräson in einer Geschwindigkeit und Wirkmächtigkeit Fakten, von denen deutsche Politik nur träumen könne. Zugleich läßt man es nicht an Warnungen vor den undemokratischen Zuständen im Reich der Mitte fehlen, wie überhaupt der rasante Aufstieg des bevölkerungsreichsten Landes der Welt zur Großmacht mit Argwohn verfolgt wird. Schließlich möchte man mit den Chinesen Geschäfte zum Vorteil der deutschen Wirtschaft machen, nicht aber unversehens den kürzeren ziehen und abgehängt werden. Und hinter vorgehaltener Hand wälzen Globalstrategen längst die Kernfrage westlichen Dominanzstrebens, wann man die Chinesen frontal angreifen müsse, um ihrer Aufrüstung zuvorzukommen. Denn daß die Welt am Ende nicht uns, sondern ihnen gehören könnte, sei ein Alptraum, den es mit allen Mitteln aus dem Feld zu schlagen gelte.

Die Staats- und Parteiführung arbeitet seit Jahren an einem umfassenden Sozialpunktesystem für alle rund 1,3 Milliarden Chinesen, das sich bislang noch auf einzelne Projekte beschränkt, aber 2020 landesweit eingeführt werden soll. Da die Behörden systematisch Kommunikations-, Bewegungs- und Zahlungsdaten sammeln, die in China relativ leicht zusammengeführt und ausgewertet werden können, hat die staatliche Überwachung enorm zugenommen. Kritiker warnen eindringlich vor einer Kontrolle jeder Facette des menschlichen Lebens. Wer gegen Gesetze oder auch nur geltende Normen und Verhaltensvorschriften verstößt, wird nicht nur gegebenenfalls auf klassische Weise bestraft, sondern in zunehmendem Maße auch von Gerichten mit Reisesperren im Inland und ins Ausland belegt. So wurde 2018 bereits in rund 17,5 Millionen Fällen Menschen das Reisen per Flugzeug verweigert, fast 5,5 Millionen Reisende durften keine Fahrkarte für einen Schnellzug kaufen.

Und diese Zahlen werden keineswegs geheimgehalten, sondern im Gegenteil in einem Report des zuständigen Informationszentrums für Sozialkredit als Erfolgsmeldung ausgewiesen. Denn die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit sollen abschrecken und die Menschen zu besserem Verhalten erziehen. Die staatlichen chinesischen Medien berichten denn auch stolz und sehr positiv über die Zahlen. Man habe "große Fortschritte" beim Aufbau des Sozialkreditsystems gemacht, schrieb etwa die Zeitung "Global Times". Die Strafmaßnahmen wirkten sich bereits auf - so wörtlich - "unehrliche Subjekte" in China aus. [2]

Während die Entwicklung dieses Kontrollsystems für die gesamte Bevölkerung schon des längeren von westlichen Medien verfolgt und mit Warnungen versehen wird, da dort das Ausmaß an Sozialkontrolle alles übersteigt, was bislang hierzulande durchsetzbar war, wird ein bislang eher übersehener Aspekt erstmals deutlich wahrgenommen und diskutiert. Von 2020 an will China auch seine Wirtschaft per Sozialkreditsystem regulieren: Firmen, die gegen Auflagen verstoßen, werden abgewertet, worauf die meisten ausländischen Unternehmen nicht vorbereitet seien, was Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in Peking, nun eindringlich zur Sprache gebracht hat. Um die Moral der Wirtschaft entscheidend zu verbessern, werden alle verfügbaren Informationen zu einem Unternehmen vom Staat gesammelt und zusammengetragen. Es gibt Minuspunkte und Pluspunkte, jede Firma erhält einen Punktestand. Wie in westlichen Ländern gibt es auch in China eine Vielzahl einzelner Ratings in der Wirtschaft, doch nächstes Jahr soll alles in einem zentralen Datensatz zusammenlaufen. [3]

Was das für westliche Unternehmen bedeuten könnte, geht aus einer Studie hervor, welche die EU-Handelskammer gemeinsam mit der Firma Sinolytics unter dem Titel "Die digitale Hand" veröffentlicht hat. Neu ist demnach die Zusammenführung vorhandener Informationen aus dem Steuerwesen, dem Zoll und den Umweltbehörden, die nicht wie bislang getrennt und von Fall zu Fall bewertet werden, sondern Ende des Jahres wie in der Schule in eine Note münden, mit der das Unternehmen bewertet wird. Diese Note ist dann Grundlage all dessen, was diese Firma auf dem chinesischen Markt machen kann: Ob sie überhaupt operativ tätig sein darf, wie hoch die Zinssätze bei der Bank sind, welche Auflagen es beim chinesischen Zoll gibt oder wie die Chancen bei Vergabeverfahren sind. Wer sich an geltende Regeln hält, wird belohnt. Wer aber gegen Umweltauflagen verstößt, Steuern hinterzieht oder bei der Korruption erwischt wird, bekommt Probleme bis hin zum Geschäftsverbot.

Handelskammerpräsident Wuttke kann dieses Vorgehen durchaus verstehen, da es dazu beitragen dürfte, die Wirtschaft sehr schnell auf erwünschte Standards zu bringen. Zugleich moniert er jedoch, daß niemand wisse, wie dieses System letztlich umgesetzt wird, da es bislang an Informationen und Transparenz mangle. Obgleich diese Thematik das zukünftige operative Geschäft maßgeblich beeinflussen werde, sei sie unter den Mitgliedern der Kammer weitgehend unbekannt, was im übrigen auch für Amerikaner oder Japaner gelte. Auch unter deutschen Unternehmen ist die Unsicherheit groß. Die Deutsche Handelskammer in China hat unter ihren Mitgliedern eine Umfrage durchgeführt, der zufolge sieben von zehn deutschen Unternehmen nicht mit dem chinesischen Scoring-System vertraut sind.

Wie Wuttkes ambivalente Einschätzung unterstreicht, freut sich die deutsche Geschäftswelt über alle Maßnahmen, welche die chinesische Konkurrenz auf die Einhaltung gleichrangiger Standards verpflichtet, während sie zugleich fürchtet, höheren oder anders gearteten unterworfen zu werden und dadurch Nachteile zu erfahren. Daher rührt die alarmistische Wortwahl im Positionspapier der Kammer, in dem ein "radikaler Wandel" angekündigt wird, während die mangelnde Vorsorge europäischer Unternehmen "zutiefst besorgniserregend" sei, könne das Sozialkreditsystem doch über "Leben oder Tod für einzelne Unternehmen" entscheiden.

Ähnlich wie anderswo auf der Welt war es bislang auch bei chinesischen Unternehmen oftmals Praxis, beispielsweise bei Umweltauflagen zwischen den jeweiligen Kosten für Umrüstung und Strafzahlungen abzuwägen. Bei diesem pragmatischen Umgang kamen vielleicht noch Summen hinzu, um die zuständigen Beamten zu schmieren - auch dies keinesfalls ein Alleinstellungsmerkmal der chinesischen Wirtschaft. Das will die Regierung mit dem beispiellosen Plan des Sozialkredits ändern, der zwar in gewisser Weise an westliche Sozialrankings für Unternehmen erinnert, aber sehr viel schärfer greifen soll. Firmen, die bestechen, statt Filter zu verbauen, droht die Herabstufung. Wer mit einem Umweltsünder Geschäfte macht, muß fürchten, daß seine eigene Bewertung sinkt. Schwarze Schafe werden so isoliert, weil sich die Kunden abwenden. Daher ist die Formulierung der Kammer, es gehe um "Leben oder Tod" der Firmen, nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Ausländische Unternehmen fürchten, daß sich dadurch bislang isolierte Probleme wie etwa ein harmloser Disput mit einer regionalen Zollverwaltung irgendwo im Land auf das gesamte Geschäft auswirken könnten. Welcher Algorithmus liegt dem zugrunde und wird die Bewertung womöglich zusätzlich manipuliert? Diese und andere Fragen dürften für viele mittelständische Unternehmen aus Deutschland eine gewaltige Herausforderung sein, da sämtliche Geschäftsbeziehungen untersucht und selbst kleinste Entscheidungen berücksichtigt werden müssen. Besonders irritierend ist indessen die Verknüpfung von Unternehmensbewertung und dem individuellen Sozialkredit. Laut dem Gesetzentwurf haften Geschäftsführer künftig für ihre Firmen, so daß beispielsweise der verschuldete Verkehrsunfall eines Managers oder ein privates Steuervergehen Auswirkungen auf die Bewertung des gesamten Unternehmens hat. Zudem ist lediglich von "verantwortlichen Personen" die Rede, ohne daß definiert würde, wie viele Führungskräfte dabei unter die Lupe genommen werden.

Zudem finden sich in den etwa 350 veröffentlichten Vorschriften und Gesetzestexten immer wieder Paragraphen zur nationalen Sicherheit, die sich sehr weit auslegen lassen. Auch fürchtet die Kammer, daß das Sozialkreditsystem etwa in Handelsauseinandersetzungen mißbraucht werden könnte, indem ein Unternehmen als eine "schwer vertrauensunwürdige Firma" eingestuft wird und den Marktzugang in China verliert. Punktabzüge sind bereits möglich, wenn etwa "das Vertrauen der chinesischen Verbraucher" erschüttert sei, was immer das bedeuten mag.

"In mancher Hinsicht sind das gute Nachrichten", schreibt gleichwohl die EU-Kammer in ihrem Bericht. Das vollautomatisierte System zur Überwachung könnte dafür sorgen, daß alle Firmen gleich behandelt werden. Auch soll es Anreize schaffen, mit denen sich Unternehmen gegenseitig kontrollieren. Zu Abzügen könnten etwa Mängel beim Arbeitsschutz oder andere Verstöße von Sicherheitsregeln führen. Auch Steuerdelikte wirken sich negativ aus. Die Kammern warnen zugleich, daß die Einführung des Systems mit zahlreichen Ungewißheiten verbunden sei. Unklar sei etwa, wie verschiedene Bewertungskriterien gewichtet würden. Das System, in dem alle Daten zusammengeführt werden, beruhe auf einem "intransparenten Algorithmus", so die Deutsche Handelskammer. [4]

Aus Sicht der deutschen Wirtschaft seien eine Koppelung an rechtsstaatliche Prinzipien und transparente nachvollziehbare Regeln eine Grundvoraussetzung für ein derartiges Bewertungssystem. Die Datenabfrage sollte sich auf das notwendige Minimum beschränken. Dann könnte ein solches System beispielsweise helfen, andere Unternehmen besser einzuschätzen, bevor eine Geschäftsbeziehung eingegangen oder vertieft wird. Die Deutsche Kammer fordert deshalb von der chinesischen Regierung, möglichst schnell und umfassend zu informieren. Ein Anliegen, daß auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Peking tragen wird, die Ende nächster Woche mit einer großen Wirtschaftsdelegation zum Staatsbesuch nach China reist.

Daß sich die chinesische Führung davon beeindrucken läßt, ist eher nicht zu erwarten. Ihr Vorhaben stößt in der Bevölkerung dem Vernehmen nach auf relativ wenig Kritik, geschweige denn sichtbare Opposition, was sich nicht allein mit ihren offen repressiven Möglichkeiten und der Bereitschaft, sie zum Einsatz zu bringen, erklären läßt. Sie knüpft nicht zuletzt an traditionell in der Gesellschaft verwurzelte Ordnungsvorstellungen an, indem sie beispielsweise selektiv ausgewählte konfuzianistische Elemente instrumentalisiert, ist doch die massenhafte Beteiligung an diesem System ebenso entscheidend für seinen Erfolg wie der Einsatz modernster Technologie. Durchaus wesensverwandt den Strategien sozialer Kontrolle in westlichen Industriestaaten, doch zugleich in den spezifischen Herrschaftstechniken einer jahrtausendealten Zivilisation verankert, macht das Sozialpunktesystem in China mit der Totalüberwachung der Gesellschaft auf eine Weise ernst, die selbst westliche Technokraten des Polizeistaats vor Neid erblassen läßt.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/china-score-system-firmen-101.html

[2] www.tagesschau.de/ausland/sozialkredit-ranking-china-101~_origin-c74f18aa-fb0f-477b-93e0-c22d4b6d3830.html

[3] www.sueddeutsche.de/wirtschaft/china-sozialkreditsystem-eu-1.4578593

[4] www.n-tv.de/wirtschaft/Chinas-Punktesystem-trifft-auch-EU-Firmen-article21234378.html

29. August 2019


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