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REPRESSION/1642: Flüchtlingslager - keiner will's gewesen sein ... (SB)



Die Unterbringung Schutzsuchender in Lagern, die Freiluftgefängnissen gleichkommen, ist Teil der politisch gewollten Abschreckung. In diesen so genannten Hotspots auf den griechischen Inseln gibt es zu wenig von allem, zu wenige Unterkünfte, Schlafplätze, sanitäre Anlagen. Die Lager sind weit über das Erträgliche hinaus ausgelastet, ein paar Quadratmeter für bis zu 30 Menschen sind keine Seltenheit. Bei Regen steht alles unter Wasser, Bewohner sind gezwungen, Tage und Nächte stehend zu verbringen.
Pro Asyl [1]

Im Frühjahr 2016 setzte Bundeskanzlerin Angela Merkel gegen alle Widerstände das informelle Abkommen der Europäischen Union mit der Türkei als Kernstück der Migrationskontrolle durch. Im Rahmen dieser Vereinbarung soll die Türkei geflohene Menschen von der EU fernhalten und erhält dafür sechs Milliarden Euro. Die griechische Regierung bekommt ebenfalls Unterstützung von der EU, wofür sie im Gegenzug MigrantInnen auf den fünf Inseln in der Ägäis festhält und solche ohne Recht auf internationalen Schutz anschließend in die Türkei zurückbringen soll. Die EU nimmt für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, einen anderen syrischen Flüchtling auf legalem Weg auf. So sah es jedenfalls das Abkommen vor, mit dem unter deutscher Führung der strategische Ansatz einer vorgelagerten Flüchtlingsabwehr umgesetzt wird, dem ähnliche Absprachen mit anderen Staaten wie Ägypten, Marokko und Tunesien folgen sollten. Der Ansatz erwies sich aus europäischer Sicht als so erfolgreich, daß die EU-Kommission die sogenannte Migrationskrise jüngst für beendet erklärt hat. [2]

Es liegt in der Logik dieser Konstruktion, daß die Krise nicht bewältigt, sondern anderen Staaten aufgelastet wird, die sie wiederum auf die Flüchtlinge abwälzen. Was immer diesen Menschen auf ihrer Flucht vor Krieg und Verfolgung, Hunger und Elend widerfährt, resultiert im wesentlichen nicht aus einer unzulänglichen Umsetzung dieses Verfahrens, sondern entspricht dessen zentraler Stoßrichtung: Das Leiden der geflohenen Menschen wird verschärft, um mit diesem Signal andere abzuschrecken, sich ihrerseits auf den Weg zu machen.

Die Türkei hat ihren Teil des Abkommens erfüllt und 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, mehr als alle anderen Länder der Welt zusammengenommen. Aus Sicht des Erdogan-Regimes waren sie insofern willkommen, als sie in Zeiten der Hochkonjunktur den Bedarf an billigen Arbeitskräften decken und die geplante ethnische Säuberung in den Kurdengebieten durch einen Austausch der Bevölkerung ermöglichen sollten. Zudem wurde die Südgrenze mit einer Mauer und anderen Sperranlagen abgeschottet, um die weitere Zuwanderung aus Syrien und entfernteren Ländern zu verhindern wie auch die kurdischen Kantone im Nachbarland abzuschneiden.

Viele der geflohenen SyrerInnen schlagen sich in der Türkei als schlecht bezahlte HilfsarbeiterInnen auf dem Bau, in Textilfabriken oder in der Gastronomie durch, wobei der karge Lohn nicht ausreicht, um sich ein neues Leben aufzubauen. Im Gefolge der Wirtschaftskrise verlieren immer mehr von ihnen ihre Jobs, was den Druck massiv verschärft, sich auf den Weg in andere europäische Länder zu machen. Ganze Familien kratzen ihr Erspartes zusammen und wagen die lebensgefährliche Überfahrt auf die griechischen Inseln oder nehmen den kaum minder riskanten Landweg über den Grenzfluß Evros. Die Schlepper kassieren 500 bis 800 Euro pro Person für eine Überfahrt in überfüllten Schlauchbooten, Hunderte Flüchtlinge sind in den letzten Jahren in der Meerenge zwischen dem türkischen Festland und griechischen Inseln wie Samos, Lesbos oder Chios ertrunken.

Nach Angaben des Büros des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in Athen kamen 2018 insgesamt 50.500 Geflüchtete neu nach Griechenland, 14.000 mehr als im Jahr zuvor. Besonders auffällig ist dabei die steigende Zahl der Neuankünfte im Evros-Gebiet im Nordosten Griechenlands, wo im vergangenen Jahr mehr als 18.000 eintreffende Flüchtlinge gezählt wurden. Im April 2019 kamen fast 3.600 Menschen über den Evros, womit erstmals seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals die Zahl der Ankünfte auf den Inseln übertroffen wurde, wo in diesem Monat 3000 neue Flüchtlinge registriert wurden. Diese Verlagerung der Fluchtroute hängt zweifellos mit den extremen Verhältnissen in den sogenannten Hotspots auf den Inseln zusammen, in denen die Menschen unter unwürdigsten Bedingungen de facto gefangengehalten werden. [3]

Der Schweizer Jean Ziegler hat als Vizepräsident des Expertenausschusses, der den UN-Menschenrechtsrat berät, jüngst den Hotspot Moria auf der griechischen Insel Lesbos besucht, der als Auffanglager für MigrantInnen an der europäischen Außengrenze gilt. Ziegler berichtet von fürchterlichen Zuständen, da das Lager mit 5000 Menschen völlig überfüllt ist und es rundherum in den Olivenhainen inoffizielle Camps gibt. Familien aus Syrien oder Afghanistan haben sich dort notdürftige Schutzkonstruktionen aus Ästen und Plastik zusammengeschustert: "Mitten in Europa leben sie in Hütten, wie man sie aus Bangladesh oder den Slums von Honduras kennt. 35 Prozent der Bewohner sind Kinder unter 10 Jahren." Hundert Personen müssen sich eine Dusche und eine Toilette teilen, die oft verstopft ist, so daß Fäkalien herumliegen. Es gibt kein warmes Wasser, keine Schulen und nur zwei Ärzte, das Essen, das Catering-Firmen im Auftrag der Regierung liefern, ist oft ungenießbar. Auch die Sicherheit ist nicht gewährleistet, obwohl griechische Polizisten vor Ort sind. Viele Frauen trauen sich nachts nicht, auf die Toilette zu gehen, weil es Vergewaltigungen gab. Zu diesen katastrophalen physischen Zuständen kommt noch das psychische Elend der oftmals traumatisierten, auch hier in ständiger Angst und Ungewißheit lebenden Menschen. Sie haben Bombardierungen, Folter, Schiffsunglücke hinter sich und sitzen nun wie im Gefängnis, umgeben von Stacheldraht, ohne zu wissen, was auf sie zukommt. [4]

Das Lager Moria auf Lesbos ist kein Ausnahmefall, da auch der Hotspot auf Samos, offiziell auf knapp 700 Menschen ausgelegt, mit mehr als 4000 Geflüchteten absolut überbelegt ist. Im Umfeld des engen, streng bewachten Wohncontainerdorfs werden immer mehr notdürftige Zelte errichtet, in denen die Familien Kälte, Sturm und Starkregen fast schutzlos ausgeliefert sind. Zur medizinischen Versorgung gibt es nur einen Arzt und einige Pfleger, die Hilfsorganisationen sind heillos überfordert. Insbesondere für schwangere oder allein reisende Frauen, die sich zusätzlichen Bedrohungen ausgesetzt sehen, sind diese Verhältnisse absolut feindlich. Die Versorgung ist schlicht untragbar, von der medizinischen Grundversorgung bis hin zu Nahrungsmitteln ist nichts in ausreichendem Maße vorhanden. Viele Flüchtlinge sind chronisch krank oder durch Krieg und Flucht traumatisiert, eine Chance auf Gesundung haben sie unter diesen Bedingungen nicht.

Jean Ziegler fordert eine sofortige Auflösung der Lager, in denen eine ganze Reihe von Menschenrechten permanent verletzt werde: das Recht auf angemessene Nahrung, das Recht auf Bildung für die Kinder, das Recht auf Gesundheit und schließlich das universelle Menschenrecht, ein Asylgesuch zu stellen und eine ernsthafte Anhörung zu erfahren. Was er auf Moria antreffe, sei ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Von einem fairen und zügigen Asylverfahren, wie es mit dem EU-Türkei-Deal für die Hotspots in Aussicht gestellt wurde, könne überhaupt keine Rede sein. Die Erstbefragung erstellen Beamte des European Asylum Support Office (EASO), was pro Person oft nur 15 Minuten dauere. Die befragten Menschen könnten sich dabei unmöglich angemessen erklären, und doch präge diese Erstbefragung das gesamte weitere Verfahren, da die griechischen Behörden und Gerichte auf Grundlage dieser Dossiers urteilen. Das Recht auf Asyl werde durch verwaltungstechnische Schliche ausgehebelt, so Ziegler. Diese Vorgehensweise werde seit langem moniert, doch eine diesbezügliche Beschwerde wurde 2017 seitens der EU abgewiesen.

Über die Asylanträge entscheiden die griechischen Behörden, doch das Verfahren ist äußerst langwierig. Zunächst wird geprüft, ob bei einer Rückführung in die Türkei Gefahr droht. Gegen eine abschlägige Entscheidung ist Widerspruch möglich, so daß sich schon dieser Abschnitt des Verfahrens über eineinhalb Jahre hinziehen kann. Hat man die Entscheidung bekommen, daß die Türkei für einen nicht sicher ist, folgt erst der eigentlichen Asylantrag, in dem es darum geht, ob die Person politisch verfolgt oder subsidiär schutzberechtigt ist. Die Termine für den Asylantrag liegen mittlerweile im Jahr 2021. Während dieser Zeit dürfen die Flüchtlinge die Insel nicht verlassen. Wer also von den Rechtsmitteln umfassend Gebrauch macht, sitzt in der Falle.

In einem Bericht der deutschen Botschaft in Athen hat Simon Mordue, der für den Pakt mit der Türkei zuständige Europa-Beamte, die Situation als "Schande für Europa" bezeichnet. EU und griechische Regierung schieben sich gegenseitig die Verantwortung für diese menschenunwürdigen Zustände zu. "Wir haben die griechischen Behörden wiederholt auf die sehr herausfordernde Situation auf den griechischen Inseln hingewiesen", sagt eine Sprecherin der EU-Kommission. Griechenland müsse eine effektive und nachhaltige Strategie entwickeln, um die Migration zu ordnen. Schließlich habe das Land inzwischen mehr als zwei Milliarden Euro an Hilfe erhalten. Gerald Knaus, der Vorsitzende des Thinktanks "Europäische Stabilitätsinitiative" (ESI) und Architekt des EU-Türkei-Deals, ist überzeugt, daß eine Verbesserung der Lebensbedingungen für Flüchtlinge auf den griechischen Inseln nicht an fehlenden Ressourcen, sondern an der Blockadehaltung der verantwortlichen Politiker scheitert: "Die Tsipras-Regierung will Flüchtlinge abschrecken, indem sie Neuankömmlinge schlecht behandelt."

Im griechischen Migrationsministerium bestreitet man das und erklärt, Griechenland könne nicht die gesamte Last schultern, da die Ressourcen endlich seien. Der EU-Türkei-Deal sei nur als vorübergehende Notfallmaßnahme geplant gewesen, nun müßten andere EU-Staaten Asylbewerber abnehmen und die Asylverfahren im eigenen Land durchführen. Griechenland hat der EU im April ein Memorandum mit dem Appell geschickt, daß sofort 20.000 Menschen auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden sollten. Darauf hat die Regierung in Athen bis heute keine Antwort bekommen. Eine Neuverhandlung des Dublin-Abkommens steht nicht zur Disposition.

Die Verantwortlichen im griechischen Migrationsministerium, bei Militär und Polizei, aber auch bei der Grenzschutzagentur Frontex lassen seit Jahren die Kritik genauso an sich abprallen wie die Verantwortlichen in der EU. Salam Aldeen vom dänischen "Team Humanity" formuliert es so: "Die Flüchtlinge leiden. Warum müssen sie leiden? Die Europäische Union oder Griechenland (...) will, dass sie leiden. Um das Signal in die Türkei zu senden: Kommt nicht! Sonst müsst ihr auch leiden. Kommt nicht nach Europa, hier müsst ihr leiden."


Fußnoten:

[1] www.proasyl.de/thema/fluechtlinge-in-griechenland/

[2] www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-auf-samos-wie-der-eu-tuerkei-pakt-scheitert-a-1261887.html

[3] www.deutschlandfunk.de/europas-vergessene-fluechtlinge-das-elend-in-den-lagern-auf.724.de.html

[4] www.zeit.de/politik/ausland/2019-05/jean-ziegler-moria-fluechtlingslager-menschenrechte-fluechtlingspolitik/komplettansicht

27. Mai 2019


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