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REPRESSION/1641: Türkei - Strafverfahren als Druckmittel ... (SB)



Sie wollen nicht, dass wir an den Verhandlungen teilnehmen; wollen nicht, dass wir uns verteidigen; wollen nicht, dass wir es vor Gericht schaffen, unsere Unschuld zu beweisen. Sie sagen quasi: Wir wollen diesen Prozess so zu Ende führen, wie wir uns das vorgestellt haben.
Suat Corlu (Ehemann Mesale Tolus) [1]

Unter Präsident Recep Tayyip Erdogan wurde die Türkei in ein riesiges Gefängnis für Oppositionelle, Journalisten und Wissenschaftler verwandelt, beschreibt die Linken-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke die Repression des Regimes in Ankara. Daß die Bundesrepublik die Türkei aus wirtschaftlichem und geopolitischem Interesse heraus weiterhin als demokratisches Land behandele, sei beschämend. Jelpke fordert die Bundesregierung auf, Konsequenzen zu ziehen. "Ein Ende der deutschen Waffenlieferungen und der Zusammenarbeit mit den türkischen Polizei- und Geheimdienstbehörden sowie der Vergabe von Hermes-Bürgschaften für deutsche Interessen in der Türkei wäre das Mindeste."

Laut einer Antwort des Auswärtigen Amtes auf eine Anfrage der Linken ist die Situation von Häftlingen in türkischen Gefängnissen verheerend. Erkenntnissen der deutschen Auslandsvertretungen zufolge sind zahlreiche Haftanstalten überbelegt: Danach standen Ende November vergangenen Jahres in 389 türkischen Gefängnissen für 260.144 Inhaftierte 213.862 Haftplätze zur Verfügung. 57.710 der inhaftierten Personen hätten sich in Untersuchungshaft befunden. Es gebe Berichte von Einzelpersonen und Nichtregierungsorganisationen über Folter und Mißhandlungen in türkischer Haft. Bei einem Großteil der Inhaftierten handelt es sich offenbar um politische Gefangene, denn den Angaben der Bundesregierung zufolge sind seit dem Putschversuch vor drei Jahren bis zu diesem Januar mehr als 125.000 Menschen in der Türkei festgenommen worden, darunter 31.088 mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung. Entlassen worden seien bislang rund 53.000. Es gebe Hinweise auf 5000 inhaftierte Mitglieder der prokurdischen linken Oppositionspartei HDP, unter ihnen 26 Parlamentsabgeordnete. Nach Erkenntnissen des Außenamts befinden sich derzeit 40 Bürgermeister in türkischen Gefängnissen, weitere 108 seien ihrer Ämter enthoben und durch Zwangsverwalter ersetzt worden. Gegenwärtig sollen 159 Journalisten inhaftiert sein. [2]

Zahlreiche Gefangene befinden sich in Isolationshaft, deren Bedingungen so unerträglich sind, daß sich manche sogar das Leben nehmen. Die türkische Regierung erteilt jedoch keinerlei Auskünfte über die Häufigkeit und Umstände dieser Haftbedingungen, was auch für die Beauftragte für Menschenrechtsfragen bei der Regierungspartei AKP gilt. Doch immer wieder gehen Todesfälle durch die Presse, nach Schätzungen von Experten sollen etwa 3000 Personen von Isolationshaft betroffen sein. Nach Angaben des Abgeordneten Ömer Faruk Gergerlioglu von der HDP, der sich im türkischen Parlament für die Verbesserung der Haftbedingungen einsetzt, sind die betroffenen Häftlinge einer unerträglichen Isolation ausgesetzt, zumal selbst Freigänge oder sportliche Aktivitäten verboten seien. Dem Gesetz nach dürfte ein Häftling höchstens 20 Tage in Isolationshaft sitzen, wenn es sich bei der Strafe um ein disziplinarisches Vergehen handelt. "Doch wir wissen, dass sich hunderte Häftlinge bis zu 26 Monaten in Einzelhaft befinden." Der Staat setze im Gefängnis die Menschenrechte aus. [3]

Hinzu kommen schwere gesundheitliche Probleme von Gefangenen infolge der Haftbedingungen. Nach Angaben der Initiative "Freiheit für kranke Gefangene" sind Anfang dieses Jahres innerhalb einer Woche zwei politische Gefangene in türkischer Haft gestorben. Die Zustände in den überbelegten Gefängnissen seien katastrophal. Zu den schwerwiegendsten Problemen gehörten eingeschränkter Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen für die Gefangenen, lange Fahrten zwischen Gefängnissen und Krankenhäusern und die ausbleibende Einweisung auf Krankenstationen und Kliniken. Insbesondere das Leben von herzkranken Gefangenen sei in Gefahr. Seit 2017 seien nachweislich 16 Gefangene nach Herzinfarkten gestorben, die Dunkelziffer liege bedeutend höher. [4]

Schlagzeilen in deutschen Medien machten jüngst die Angaben des Journalisten Deniz Yücel, er sei in der Türkei während seiner Haft gefoltert worden. Der Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour erklärte daraufhin, es könne nun kein "Weiter so" in den deutsch-türkischen Beziehungen geben. Die Bundesregierung müsse Präsident Erdogan klar zu verstehen geben, daß sie die wahllose Folter und Inhaftierung deutscher Staatsbürgerinnen und Staatsbürger nicht länger akzeptiert. Die stellvertretende Vorsitzende der Linksfraktion Sevim Dagdelen verlangte die sofortige Einbestellung des türkischen Botschafters ins Auswärtige Amt. Das sei nötig, "auch um weitere in türkischer Haft befindliche deutsche Staatsbürger vor Folter und Misshandlung zu schützen", sagte die Vorsitzende der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe. Zudem forderte sie einen sofortigen Stopp der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei. [5]

Namhafte ausländische Geiseln benutzt das Erdogan-Regime als Mittel der Einschüchterung, Bedrohung und nicht zuletzt als Faustpfand für geheime Absprachen, um Zugeständnisse der jeweiligen Regierungen zu erwirken. Das trifft auch für die deutsche Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu zu, deren Prozeß in Istanbul in ihrer Abwesenheit nach einer kurzen Verhandlung auf den 11. Oktober vertagt wurde. Ohne absehbares Ende verschleppte Verfahren sind charakteristisch für derartige Prozesse auf Grundlage willkürlicher Anklagen, fingierter Vorwürfe und fabrizierter Beweise. Letzteres gilt zwar im Prinzip für alle politischen Gefangenen in der Türkei, die jedoch zumeist recht schnell abgeurteilt werden. In bestimmten Fällen behält sich die Justiz jedoch vor, Verfahren gewissermaßen in der Schwebe zu halten, um über alle Optionen zu verfügen.

Die Staatsanwaltschaft wirft Tolu, ihrem Ehemann Suat Corlu und einer Gruppe weiterer Angeklagter Mitgliedschaft in der linksextremen Marxistisch-Leninistischen Kommunistischen Partei MLKP vor. Diese gilt in der Türkei als Terrororganisation, und das Gericht könnte eine Strafe von bis zu 20 Jahren verhängen. Mesale Tolu, die für die linke Nachrichtenagentur Etha gearbeitet hat, soll laut Anklageschrift als Journalistin zu nicht verbotenen Veranstaltungen oder Versammlungen gegangen zu sein, um von dort zu berichten. Ihr deswegen Verbindungen zur MLKP anzulasten, kommt einer Aufhebung der Pressefreiheit gleich, die unter der AKP-Regierung allerdings praktisch auch nicht mehr existiert.

Suat Corlu wurde nach seiner Festnahme im Hochsicherheitsgefängnis Silivri inhaftiert, das 70 Kilometer westlich von Istanbul liegt. Im größten Gefängnis Europas mit mehr als 11.000 Häftlingen waren unter anderen auch die bekannten Journalisten Deniz Yücel und Can Dündar eingesperrt. Mesale Tolu, deren Familie ursprünglich aus dem ostanatolischen Malatya stammt, die aber in Ulm lebt und seit 2007 nur die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, wurde im Mai 2017 zusammen mit ihrem zweijährigen Sohn in Istanbul ebenfalls festgenommen und im Frauenknast im Istanbuler Stadtteil Bakirköy inhaftiert, bis sie im Dezember 2017 freikam, aber zunächst das Land nicht verlassen durfte. Im August 2018 konnte sie schließlich ausreisen, wobei ihr Verfahren in der Türkei weiterläuft.

Ihr Name wird häufig im Zusammenhang mit denen des Menschenrechtlers Peter Steudtner und des Journalisten Deniz Yücel genannt, denen es ähnlich erging. Weiter in Istanbul bleiben muß der unter Terrorvorwürfen angeklagte Kölner Sozialarbeiter Adil Demirci, der Mitte Februar nach rund zehn Monaten aus der U-Haft entlassen worden war. Am 30. April wurde die Fortsetzung seines Prozesses auf den 15. Oktober vertagt.

Beim aktuellen Prozeßtag Mesale Tolus, deren Verfahren nun schon zwei Jahre andauert, sollte eigentlich der "geheime Zeuge", unkenntlich gemacht und per Videoeinspielung, gehört werden, auf den sich die Anklage stützt. Tolu, die zu diesem Prozeßtag nicht nach Istanbul gereist war, ist der Auffassung, daß die Staatsanwaltschaft außer diesem ominösen Zeugen offenbar nichts gegen sie in der Hand hat. Der Zeuge konnte jedoch, angeblich wegen technischer Probleme, nicht einvernommen werden, weshalb der Prozeß auf den 11. Oktober vertagt wurde. [6]

Wie Tolus Ehemann Suat Corlu dazu erklärte, beruhe die gesamte Anklage auf dem geheimen Zeugen, der aber trotz der Forderung seitens der Verteidigung nicht angehört wurde. "Wie kann es seit vier Monaten ein technisches Problem geben?" Ob es diesen Zeugen überhaupt gebe, sei fraglich. "Das scheint eine Ausrede zu sein, um den Prozess in die Länge zu ziehen", so Corlu. Ihm wurde indessen die Einreise in die Türkei zum Verhängnis, da Grenzpolizisten direkt nach der Landung in Istanbul seinen türkischen Pass einzogen und eine Ausreisesperre verhängten. Offensichtlich handelte es sich um eine Falle, da es Tolu zufolge zuvor keine Vorladung und keinen anderen Hinweis darauf gegeben hatte. Corlus Ausreisesperre war ursprünglich im Oktober 2018 aufgehoben, aber zwischenzeitlich ohne sein Wissen erneut verhängt worden. Als er nun in der Verhandlung beantragte, die Ausreisesperre aufzuheben, erklärten sich die Richter für nicht zuständig. Nicht sie hätten die Sperre verhängt, sondern ein Richter in Ankara am 14. Mai, da gegen Corlu noch andere Ermittlungen liefen. [7]

"Das Ganze wirkt sehr geplant, um uns einzuschüchtern und Angst zu machen", geht Mesale Tolu von einer konzertierten Vorgehensweise der türkischen Justiz aus. Ihr Mann habe beabsichtigt, dem Prozeß beizuwohnen, wobei er regelmäßig in die Türkei reise und sich der Risiken bewußt sei. Diese Freiheit wolle er sich nicht nehmen lassen, auch um Gegenbeweise anzuführen. Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Margit Stumpp, die zur Beobachtung des Verfahrens in die Türkei gereist war, kritisierte die kurze Verhandlung scharf und bezeichnete deren Verlauf als harten Rückschlag. Daß die nächste Verhandlung erst im Oktober stattfinde, führe dazu, daß der psychische Druck auf alle Beteiligten wachse. Wann das Verfahren beendet werde, sei nicht abzusehen.


Fußnoten:

[1] www.tagesschau.de/ausland/tolu-pass-101.html

[2] www.focus.de/politik/ausland/folter-und-misshandlungen-in-tuerkischer-haft-bundesregierung-stellt-ueberbelegung-tuerkischer-gefaengnisse-fest_id_10466833.html

[3] www.dw.com/de/türkei-die-folter-der-einsamkeit/a-48636986

[4] www.kn-online.de/Nachrichten/Politik/Bundesregierung-Tuerkische-Gefaengnisse-sind-stark-ueberbelegt

[5] www.tagesschau.de/inland/yuecel-folter-haft-tuerkei-103.html

[6 www.jungewelt.de/artikel/355385.willkür-in-der-falle.html

[7] www.t-online.de/nachrichten/deutschland/id_85805228/mesale-tolu-prozessauftakt-in-istanbul-harter-rueckschlag-fuer-journalistin.html

25. Mai 2019


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