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REPRESSION/1633: Frankreich - Gewaltfasson und Staatsräson ... (SB)



Ich kenne keinen Polizisten und keinen Gendarmen, der die Gilets jaunes angegriffen hätte.
Frankreichs Innenminister Christophe Castaner [1]

Die Protestbewegung der Gelbwesten demonstriert seit dem 17. November 2018 jedes Wochenende unter anderem gegen die Politik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und hat damit die größte Krise in dessen Amtszeit ausgelöst. Um die Bewegung der Gilets jaunes unter Kontrolle zu bringen und niederzuschlagen, setzt der französische Staat neben unzureichenden Zugeständnissen und einem fiktiven Dialog vor allem auf die Mittel repressiver Aufstandsbekämpfung. Die hochgerüsteten Polizeien beschießen die Demonstrierenden mit Hartgummigeschossen vom Typ LBD-40 und mit dem Sprengstoff TNT bestückten Tränengas- oder Blendgranaten, die schwere Verletzungen hervorrufen. Es werden massenhaft Menschen festgenommen, Urteile von Schnellgerichten gefällt und Haftstrafen verhängt. Ein neues Gesetz erweitert die Möglichkeiten der Polizei und droht das Demonstrationsrecht auszuhebeln.

Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, hatte Ende Januar Paris besucht, um sich über mögliche Menschenrechtsverletzungen bei den Protesten zu informieren. Nun hat sie das Vorgehen der französischen Polizeien gegen demonstrierende Gilets jaunes scharf kritisiert. Ob die von den Sicherheitskräften eingesetzten Methoden im Einklang mit den Menschenrechten stünden, sei fraglich, heißt es in dem von ihr in Straßburg vorgelegten Gutachten. Angesichts vieler Verletzter fordert sie ein vorläufiges Verbot von Hartgummigeschossen. Die französischen Behörden sollten detaillierte Zahlen zu Verletzten vorlegen. Unter Berufung auf Daten des Innenministeriums ist von mindestens 2060 Verletzten die Rede, die teils gravierende Schäden davongetragen hätten. Mehr als 12.000mal sollen Hartgummigeschosse abgefeuert worden sein. Berichten verschiedener Quellen zufolge haben 20 Menschen ein Auge verloren, viele erlitten Knochenbrüche im Gesicht. In mehreren Fällen wurde Menschen von explodierenden Gasgranaten eine Hand abgerissen.

Besorgt zeigte sich Mijatovic auch über die hohe Zahl von Festnahmen am Rande der Demonstrationen. So nähmen die Sicherheitskräfte regelmäßig Menschen fest, die sich gar keines Vergehens schuldig gemacht hätten. Solche Präventivmaßnahmen stellten einen schweren Eingriff in das Versammlungsrecht dar. Kritik äußerte die Menschenrechtlerin zudem an geplanten Änderungen französischer Gesetze. Sie mahnte, es auch künftig nicht als Straftat zu ahnden, wenn Demonstranten ihr Gesicht verhüllten. Außerdem sollten die Behörden keine weiteren Möglichkeiten bekommen, Demonstrationen zu verbieten. [2]

Seit Beginn des Aufstands im November wurden mehr als 5.500 Demonstrierende in Polizeigewahrsam genommen. Der von Macron und seinem Ministerpräsidenten Philippe in die Nationalversammlung eingebrachte Gesetzentwurf ähnelt stark dem bereits geltenden "Antiterrorgesetz" und soll angeblich "friedliche Demonstrationsteilnehmer" vor gewaltbereiten "Randalierern" schützen. Das Gesetz würde den Aktionsradius der Polizei erheblich erweitern, die künftig jederzeit Leibesvisitationen durchführen, Taschen und Kleidungsstücke untersuchen und willkürlich "Verdächtige" von Demonstrationen fernhalten könnte. Über "auffällige" Demonstrantinnen und Demonstranten könnten ohne weiteres Dateien angelegt werden. Mehrere Gewerkschaften, darunter die der Anwälte und Richter, wie auch die Liga für Menschenrechte sprachen von einer "Gefahr für die Bürgerrechte", da diese Politik der Logik des Generalverdachts gegen jeden einzelnen zum Widerstand bereiten Bürger folge.

Im Zusammenhang mit den Protesten der Gelbwesten ist auch von mehreren Toten die Rede. Präsident Emmanuel Macron selbst nannte Ende Januar eine konkrete Zahl: Er bedaure den Tod von elf Mitbürgern während der Krise. Oft genug sei dies infolge "menschlicher Dummheit" geschehen. Sie seien aber nicht Opfer von Ordnungsgewalt geworden. Diese Aussage rief heftige Kritik auf den Plan, war doch die 80jährige Zineb Redouane in Marseille am 1. Dezember bei einer Operation im Krankenhaus gestorben. Eine Tränengasgranate hatte sie im Gesicht getroffen, als sie gerade zum Schutz ihre Fensterläden schließen wollte. Bei einem weiteren Opfer handelt es sich um einen 52jährigen, der bei einem Gelbwestenmarsch Ende Januar einen Anfall erlitt und auf dem Weg ins Krankenhaus starb. Bei den anderen neun Fällen handele es sich um Opfer von Autounfällen, die sich auf Kreuzungen und Straßen ereigneten, die die Gelbwesten blockierten.

Die Informationspolitik von Regierung und Behörden sorgt für wachsende Empörung in Frankreich: Etwa hundert Persönlichkeiten, darunter Künstler und Wissenschaftler, schrieben einen offenen Brief an Gesundheitsministerin Agnès Buzyn. Darin fordern sie, den "Schleier zu lüften" über der Zahl der Demonstranten und Sicherheitskräfte, die seit Beginn der Gelbwesten-Bewegung in Kliniken eingeliefert wurden. Die Unterzeichner zeigen sich schockiert über das "Schweigen" der Gesundheitsbehörden - auch zur Art der Verletzungen und zur Zahl der Menschen, die irreversible Schäden wie den Verlust eines Auges erlitten. Es kursieren zahlreiche Geschichten, Fotos und Videos im Netz. Die Nachrichtenagentur AFP und die Zeitung Libération führen Faktenchecks durch, als Quellen werden insbesondere die Gruppe "Désarmons-les!" (Entwaffnen wir sie!), der Journalist David Dufresne und die Facebook-Gruppe "Gilets Jaunes" genannt, die Fälle von Polizeigewalt dokumentieren. [3]

Innenminister Christophe Castaner verteidigte mehrfach den Einsatz der Hartgummigeschosse. Das oberste französische Verwaltungsgericht, der Staatsrat, erklärte den Einsatz trotz der schweren Verletzungen für notwendig. Das Gremium wies damit eine Beschwerde der Menschenrechtsliga LDH und der Gewerkschaft CGT ab. Sie hatten die Waffen als gefährlich bezeichnet und ein Verbot im Eilverfahren gefordert. Der Vorsitzende der Gewerkschaft Polizeiallianz, Stanislas Goudon, verteidigt den Waffengebrauch mit dem fadenscheinigen Argument, seine Polizeikollegen würden Demonstrationen massiv bedroht und attackiert: "Wir erleben Szenen extremer Gewalt. Polizisten werden zur Zielscheibe, sie werden angegriffen. Das zwingt uns ja erst dazu, zu antworten." Den Vogel dreister Propaganda schoß Innenminister Christophe Castaner mit der eingangs zitierten Behauptung ab, er "kenne keinen Polizisten und keinen Gendarmen, der die Gilets jaunes angegriffen hätte".

Zum Einsatz kommen die Gendarmerie mit ihrem eigenen Kriegsgerät, die in der Bekämpfung von Protestbewegungen nicht minder erfahrene Bereitschaftspolizei CRS sowie spezielle Zugreiftrupps in Zivil, die auch in den Vororten für ihre brutale Vorgehensweise berüchtigt sind. Die auf die Demonstrierenden abgefeuerten Granaten sind deshalb besonders gefährlich, weil sie Explosivstoffe enthalten. Zu schweren Verletzungen kann es kommen, wenn man beispielsweise das Geschoß mit der Hand abwehren will, um sich zu schützen. Hartgummigeschosse können ihre Opfer verstümmeln, zumal sie nicht selten gezielt auf das Gesicht abgefeuert werden. Sie schlagen Zähne heraus, brechen Kiefer und führen zum Verlust eines Auges.

Unzutreffend als "nicht-tödliche" Waffen bezeichnet oder als "Flashballs" einer früheren Generation verharmlost, feuert der "Lanceur de Balles de Défense" (LBD) mittels einer Kartusche Kautschukkugeln vom Kaliber 40 mm ab. Ein aufsetzbarer Laserpointer sorgt für eine hohe Treffsicherheit der Geschosse, die den Lauf mit einer Geschwindigkeit von 100 Meter in der Sekunde verlassen und im Bereich zwischen zwischen 25 und 50 Metern ihre Wirkung entfalten sollen. Wie die Webseite der Gelbwesten warnt, könne diese Waffe auf einer Entfernung unter 25 Metern tödlich sein.

Durch mehrere Videos dokumentiert ist zumindest ein Fall, in dem ein Familienvater Mitte Januar in Bordeaux allen Anzeichen nach von der Polizei mit einem Schuß aus einer LBD regelrecht hingestreckt wurde. Er lief vor der Polizei davon, als er am Kopf getroffen wurde. Im Krankenhaus wurde eine Hirnblutung diagnostiziert, worauf man den Mann ins künstliche Koma versetzte und die Familie um sein Leben bangte. Da der Vorfall noch untersucht wird, ist nicht offiziell geklärt, ob die innere Verletzung von einer "Verteidigungskugel" der Ordnungskräfte hervorgerufen wurde.

Angeschafft wurde der LBD-40 der Schweizer Firma Brüger & Thomet, als die französische Regierung 2005 nach den großen Unruhen in den Vorstädten die Polizei mit nicht-tödlichen Waffen kurzer Reichweite aufrüsten wollte. Die Dimension dieser Beschaffung mag eine Ausschreibung der zuständigen Behörde von Ende 2008 andeuten, die eine Lieferung von bis zu 1.204.500 "Verteidigungskugeln" lancierte, die zwischen Polizei, Gendarmerie und Gefängnisverwaltung aufgeteilt werden sollten. Ende 2015 wurde eine Ausschreibung für 115.000 neue balles de défense lanciert, im Februar 2016 beschafften sich Spezialeinheiten von Polizei und Gendarmerie 134 neue Waffen für diese Munition. Zuletzt soll die Regierung am 23. Dezember 1280 neue LBDs bestellt haben.

Ungeachtet aller Forderungen, solche Waffen zu verbieten oder zumindest ihren Einsatz vorerst zu unterbinden, bestehen Regierungskreise auf deren Gebrauch. So erklärte der Staatssekretär im Innenministerium, Laurent Nuñez, daß die Anwendung strengen Regeln unterliege. Hätten die Polizisten nicht diese Mittel zur Verteidigung, wären manche bei den letzten Demonstrationen vielleicht schon gelyncht worden, beharrte er auf drastische Weise auf der Unverzichtbarkeit dieser Waffe. Macron spricht von der Gewalt der Gelbwesten, die in der Republik keinen Platz habe. Von der Polizeigewalt spricht er nicht. Für ihn herrscht Bürgerkrieg seitens der Gilets jaunes, dessen Niederschlagung jegliches Mittel des Staates rechtfertigt.


Fußnoten:

[1] www.heise.de/tp/features/Polizeigewalt-gegen-Proteste-der-Gelbwesten-Reihenweise-Verstuemmelungen-4281441.html

[2] www.tagesschau.de/ausland/gelbwesten-199.html

[3] faktenfinder.tagesschau.de/ausland/frankreich-gelbwesten-gewalt-103~_origin-bff1815a-70d8-4e1d-ada5-37e1c4b83ceb.html

27. Februar 2019


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