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REPRESSION/1619: Sicherheit - Reichsbürger ... (SB)



Das Bundesamt für Verfassungsschutz wird die "Reichsbürger" voraussichtlich nicht überwachen. Zwar gebe es deutschlandweit "einige hundert", heißt es. Und auch wenn sich unter ihnen "Spinner" befänden, bedeute das nicht, dass sie ungefährlich seien. Allerdings, verlautet aus den Kreisen weiter, seien nicht sämtliche "Reichsbürger" tatsächlich rechtsextremistisch, sodass man sie nicht alle über einen Kamm scheren könne. Zudem seien sie nicht bundesweit vernetzt. Beides seien aber Voraussetzungen für eine Überwachung durch das Bundesamt, so dass es nicht dazu kommen werde.
Markus Decker in der Frankfurter Rundschau am 20. Oktober 2016 [1]

Am 19. Oktober jährt sich die Bluttat im fränkischen Georgensgmünd zum zweiten Mal, bei der ein sogenannter Reichsbürger mit seinen Waffen einen Polizisten tötete und drei weitere schwer verletzte. Die Beamten wollten damals dem Kampfsportlehrer Wolfgang P. 30 Waffen wegnehmen, die er legal gekauft hatte. Dieser aufsehenerregende Vorfall eines bewaffneten Angriffs mit Todesfolge auf staatliche Sicherheitskräfte in einem spezifischen ideologischen Kontext markierte insofern eine Wende in der öffentlichen Wahrnehmung und Einschätzung der Reichsbürger, als diese bis dahin zumeist als mitunter lästige, aber vermeintlich harmlose Spinner abgetan wurden. [2]

Als die Reichsbürger am 19. Oktober 2016 schlagartig in den Fokus medialen Interesses rückten und die Frage im Raum stand, was es mit dieser Bewegung auf sich habe, betonten zu Rate gezogene Experten, es handle sich bei dieser Personengruppe häufig um Bankrotteure. So erklärte Dirk Wilking vom Brandenburgischen Institut für Gemeinwesenberatung im RBB, daß in allen von ihm untersuchten Fällen im Grunde schlichtweg Geldprobleme das entscheidende Motiv gewesen seien: "Und weil sie ihre Bußgelder oder Gebühren nicht zahlen wollen, behaupten sie einfach, dass das deutsche Recht für sie nicht gilt." Viele Reichsbürger seien "gelinde gesagt unzurechnungsfähig", doch weil aus diesen Kreisen auch schon "Todesurteile" ausgesprochen worden seien, gehe ein latentes Bedrohungspotential von ihnen aus. [3]

Wie diese Einschätzung zeigt, wurde zwar eine mögliche Bedrohung nicht ausgeschlossen, aber noch keine Zuordnung zu einem politischen Zusammenhang vorgenommen, sondern ein psychopathologisches Reaktionsmuster auf soziales Scheitern in den Mittelpunkt gestellt. Soweit von der so attestierten Unzurechnungsfähigkeit eine Gefahr ausgehen mochte, wurde diese als abseitiges Phänomen einer Gruppe gesellschaftlicher Außenseiter interpretiert und damit eine konsistente inhaltliche Ausrichtung und Zielsetzung wie auch eine mögliche Radikalisierung dieser Bewegung als rechtsgerichtetes Sammelbecken unterbelichtet, wenn nicht gar systematisch ausgeblendet.

Bezeichnenderweise hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz die Reichsbürger in seinem Jahresbericht 2016 nicht einmal erwähnt, obgleich damals mehrere Landesämter die Bewegung schon seit einigen Jahren genauer in den Blick nahmen. Beispielsweise veröffentlichte das Innenministerium in Brandenburg, wo besonders viele Reichsbürger aktiv sind, bereits 2014 ein Handbuch, um über diese Gruppierung aufzuklären. Auch Berlin, Hessen und Sachsen-Anhalt gaben längst entsprechende Handreichungen heraus. Im Frühjahr 2016 kündigte das Brandenburger Finanzministerium sogar an, wegen Bedrohungen und zunehmender Aggressivität "insbesondere seitens so genannter Reichsbürger" ein Notrufsystem in Finanzämtern zu testen. Daß bestimmten Behörden dieses Phänomen schon längere Zeit als Gefahrenquelle bekannt war, hängt unmittelbar mit der spezifischen Ausrichtung dieser Bewegung zusammen.

Seit mehreren Jahren war es in verschiedenen Bundesländern zu Vorfällen mit Personen gekommen, die die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen und erklären, sie lebten im Deutschen Reich in den Grenzen von 1937. Da sie das System der Bundesrepublik ablehnen, entwickeln sie auch keine Ambitionen, an Wahlen teilzunehmen, und haben insbesondere die Verwaltung als ein Hauptangriffsziel auserkoren. Sie sprechen den Behörden jede Legitimation ab und stellen sich eigene Ausweise, Kennzeichen oder sonstige Dokumente aus. Zudem beschäftigen sie Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen, Bürgermeister, Schulleiter, Polizeidienststellen und Landtagsabgeordnete mit ausführlichen Schreiben, Behördenleiter und Mitarbeiter werden mitunter sogar mit dem "Reichsgericht" und der Todesstrafe bedroht. Reichsbürger bezeichnen sich oft als Selbstversorger, die autark leben beziehungsweise "siedeln" wollen. Viele weigern sich, Steuern oder Abgaben zu bezahlen.

Die Identifizierung mit dem Deutschen Reich in den Grenzen von 1937 zeugt von einem ausgeprägten Geschichtsrevisionismus, der seit jeher ein Grundpfeiler diverser rechtsextremer Bewegungen war. Daß es sich keineswegs um eine Strömung handelt, die vor allem nach ihren eigenen Vorstellungen autonom leben, den Staat nicht in Anspruch nehmen und am liebsten in Ruhe gelassen werden möchte, belegt der aggressive Umgang mit den Behörden bis hin zu Todesdrohungen, die insbesondere deswegen ernst zu nehmen sind, weil der Waffenbesitz in Kreisen der Reichsbürger besonders ausgeprägt und integraler Bestandteil der so verstandenen Wehrfähigkeit ist.

Erst nach den tödlichen Schüssen in Georgensgmünd kündigten die Innenminister der Länder an, gegen Reichsbürger vorzugehen und sie zu entwaffnen. Unter dem Druck der Öffentlichkeit kamen führende Innenpolitiker rasch überein, daß man ihnen die Waffenscheine sowie Pistolen und Gewehre schnell abnehmen müsse. An die Kommunen gingen Erlasse mit der Aufforderung, den Reichsbürgern die Waffenerlaubnisse zu entziehen. Laut dem Vizepräsidenten des Bundesamts für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, haben Reichsbürger deutlich häufiger einen Waffenschein als der Durchschnitt der Bevölkerung. Zeitweise hatten etwa sieben Prozent von ihnen eine waffenrechtliche Erlaubnis, während es in der Gesamtbevölkerung zwei Prozent sind.

Mehrere SPD-regierte Bundesländer starteten im vergangenen Jahr eine Bundesratsinitiative mit der Forderung, Waffenerlaubnisse für Sportschützen von einer Regelanfrage beim Verfassungsschutz abhängig zu machen. Auf diese Weise sollten Reichsbürger künftig keine waffenrechtlichen Erlaubnisse mehr bekommen. Gegen diese Überprüfung wehrten sich jedoch unter anderem die Schützenverbände. So sah der Präsident des Deutschen Schützenbundes, Hans-Heinrich von Schönfeld, "Millionen Sportschützen unberechtigterweise in eine verfassungsfeindliche Ecke" gestellt. Auch die Unionsfraktion im Bundestag blockierte den Gesetzesentwurf, eine "Kriminalisierung" und "Diffamierung" aller Sport- und Jagdschützen lehne man ab.

Im April 2018 durchsuchten Beamte des Bundeskriminalamtes in Berlin, Brandenburg und Thüringen Wohnungen von Reichsbürgern, die im Verdacht stehen, eine "Partisanenarmee" aufbauen zu wollen. Zuletzt beschlagnahmte die Polizei in Thüringen sogar eine Flakgranate bei einem "Reichsbürger". Die These, es handle sich lediglich um versponnene Sammler und Waffennarren, wird man heute wohl nicht mehr hören.

Seit Ende 2016 hatten die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder die Beobachtung der Reichsbürger- und Selbstverwalterszene intensiviert und dafür ein eigenes Sammel- und Beobachtungsprojekt eingerichtet. Im Verfassungschutzbericht 2017, den Innenminister Horst Seehofer und der damalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen Ende Juli vorstellten, wurde der Reichsbürgerszene ein starker Zulauf auf rund 16.500 Personen attestiert, etwa 3700 mehr als noch im Verfassungsschutzbericht 2016. Dieser Personenkreis weise eine "hohe Affinität zu Waffen" auf und sei teils zu "schwersten Gewalttaten" bereit. Die Mitglieder würden daher vom Verfassungsschutz aktuell als "staatsfeindlich und extremistisch" eingestuft. [4] Wenige Tage später bezifferte Maaßen dann den aktuellen Stand auf 18.400 identifizierte Reichsbürger und Selbstverwalter, darunter 900 Rechtsextremisten. Man müsse diese Szene weiterhin genauestens im Blick behalten, verzeichne indessen Erfolge bei der Entwaffnung. Die Zahl der Szenemitglieder, die als Inhaber einer Erlaubnis zum Führen von Jagd-, Sport- oder anderen Schußwaffen bekannt sind, hat demnach deutlich die 1000er-Marke unterschritten. [5]

Nach aktuellen Recherchen der Süddeutschen Zeitung und des NDR besitzen trotz mehrjähriger Bemühungen, die Reichsbürger zu entwaffnen, immer noch 605 von ihnen waffenrechtliche Erlaubnisse, mit denen sie legal Pistolen und Gewehre kaufen können. Wenngleich nach dem bundesweit geltenden Waffengesetz nur diejenigen Personen in Deutschland eine Waffenerlaubnis erhalten, die keine Bestrebungen verfolgen, gegen die verfassungsmäßige Ordnung vorzugehen, scheint die Umsetzung der rechtlichen Vorgaben im Falle der Reichsbürger nicht in vollem Umfang zu gelingen. Wie es heißt, sei dies in den Bundesländern erst zur Hälfte durchgeführt worden, die Kommunen klagen über fehlendes Personal und langwierige Widerrufsprozesse. [6]

Die Innenexpertin der Linkspartei, Martina Renner, bezeichnet es als einen Skandal, daß die Behörden erst durch den Polizistenmord 2016 auf die Gefährlichkeit der Reichsbürgerszene aufmerksam geworden seien. Sie kritisiert, daß die Entwaffnung nicht schneller vorangeht, da Gefahrenabwehr nicht an "Personalmangel oder falschen Prioritäten in den zuständigen Behörden scheitern" dürfe. Schließlich seien die Voraussetzungen zum Entzug der waffenrechtlichen Erlaubnis klar geregelt, die Maßnahmen gerichtsfest.

Welches Potential die 605 noch bestehenden waffenrechtlichen Erlaubnisse bergen, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, daß sich jeder Inhaber einer solchen behördlichen Genehmigung mehrere Waffen zulegen kann. Den genannten Medienrecherchen zufolge horten allein in Brandenburg 37 Reichsbürger mehr als 150 Schußwaffen. In Thüringen verfügen 18 Reichsbürger über 48 Gewehre und 31 Pistolen. In Schleswig-Holstein besitzen 19 Reichsbürger 46 Waffen. In Chemnitz wurden kürzlich die Mitglieder der rechtsextremen Gruppe "Revolution Chemnitz" festgenommen, die offenbar Waffen für einen Anschlag beschaffen wollte. Gleichzeitig ist Sachsen eines jener Bundesländer, in deren rechter Szene viele Schußwaffen legal kursieren: 37 Inhaber von offiziellen Waffenerlaubnissen sind Sachsens Behörden bei den Reichsbürgern bekannt. [7]

Grundsätzlich gilt natürlich, daß an dieser Stelle nur vom legalen Waffenbesitz der bereits weit über 18.000 Mitglieder zählenden Reichsbürger die Rede ist. Wie viele illegale Schußwaffen und andere verbotene Waffen in dieser Szene vorhanden sind und ob deren Zahl womöglich die der bekannten Waffenscheine weit übersteigt, ist naturgemäß nicht bekannt. Das naheliegende Gedankenexperiment, in der Bundesrepublik existiere eine derart große linksradikale Sammlungsbewegung mit einer vergleichbaren Bewaffnung, ist insofern irrelevant, als das staatliche Gewaltmonopol schon vor Jahren mit aller Macht gegen sie vorgegangen wäre, um sie im Keim zu ersticken.


Fußnoten:

[1] Markus Decker: Sicherheitskreise: Bundesverfassungsschutz wird "Reichsbürger" nicht überwachen, Frankfurter Rundschau am 20. Oktober 2016

[2] www.tagesschau.de/inland/reichsbuerger-187.html

[3] www.tagesschau.de/inland/reichsbuerger-117~_origin-12c2d4c1-60e1-4741-8084-5f6bb1917936.html

[4] www.tagesschau.de/inland/verfassungsschutzbericht-127.html

[5] www.tagesschau.de/inland/reichsbuerger-entwaffnung-101.html

[6] www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-10/reichsbuerger-deutschland-schusswaffen-waffenschein-verfassungsschutzbericht

[7] www.sueddeutsche.de/politik/exklusiv-hunderte-reichsbuerger-besitzen-schusswaffen-1.4163330

10. Oktober 2018


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