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REPRESSION/1574: Sicherheits- und Überwachungsgesetz - mediales Schweigen dominiert (SB)



Die deutsche Sprache ist überreich mit Redewendungen, Sprichwörtern, Aphorismen und lyrischen Ergüssen zum Thema "schweigen" gesegnet, so daß nicht der geringste Mangel herrscht, diesbezügliche Vorkommnisse nach Gutdünken interpretativ auszuleuchten. Wenngleich es nicht an negativ konnotierten Begriffsbildungen wie etwa "verschweigen", "totschweigen" oder "zum Schweigen bringen" fehlt, die eine gezielte Absicht im Dienst der Verschleierung unterstellen, ist die Beweisführung derselben bekanntlich eher schwer zu erbringen. Vielmehr liegt es ja in der Natur der Sache selbst, sich mit dem Unausgesprochenen einer greifbaren Stellungnahme zu enthalten und jeder Verantwortung zu entziehen. Nicht von ungefähr preisen mehr oder minder geflügelte Worte sogenannter großer Geister oder auch des schlitzohrigen Volksmunds zu Hunderten die Vorzüge des goldenen Schweigens, sei es als Charakteristikum gereifter Weisheit oder wenigstens zur Tarnung des Umstands, daß es eben doch nicht weit her mit dem philosophischen Talent ist.

Um der ungeliebten Verwirrung vorzubeugen, die sich angesichts solcher Nebelbänke einzustellen droht, drängt sich die Ausschau nach Leuchtfeuern auf. Wer könnte dazu, zumal in stürmischen Zeiten, besser geeignet sein als die Bundeskanzlerin, die ihre Gabe, in schlichten Worten Richtlinienkompetenz zu verströmen, zur Meisterschaft gebracht hat: "Schweigen wird ja sowieso zu einer Rarität in unserer Gesellschaft", so Angela Merkel in einer öffentliche Diskussion mit der "Brigitte"-Redaktion [1]. Weit davon entfernt, dies zur Chefsache zu erklären, setzte die Kanzlerin doch auf ihre bevorzugt unterschwellige Art Signal, daß es vorteilhaft wäre, hier und da das mediale Maul zu halten. Wo also erstaunlicherweise geschwiegen wird, obgleich die Faktenlage enormen Diskussionsbedarf nahelegt, ließe sich die ohnehin spekulative Debatte über die Her- und Hinkünfte der Schweigsamkeit getrost um den Zeigefinger der Kanzlerin komplettieren, solange man sich nur nicht auf Kausalketten versteift.

Der Vorrede aktueller Anlaß: Die Niederlande haben vor wenigen Tagen das umfassendste Überwachungsgesetz ihrer Geschichte beschlossen, doch niemand schaut hin. Das gilt zumindest für die deutschen Leitmedien, bei denen diesbezüglich durch die Bank Schweigen im Walde herrschte. Dabei lag umgehend eine kritische Stellungnahme des bundesdeutschen Datenschutzbeauftragten auf dem Tisch, der von verschärften Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte unzähliger, unverdächtiger Bürger sprach und einen weiteren Ausbau des "Big-Brother"-Staates monierte. [2] Auch heise online nahm sich des Themas an [3], und auf diese beiden Quellen nahmen alle weiteren insgesamt äußerst spärlichen Meldungen etwa der jungen Welt [4], im Neuen Deutschland [5], bei rt.Deutschland [6] sowie einigen IT-Publikationen Bezug, womit der Kreis der "üblichen Verdächtigen" auch schon geschlossen war. Anders im Nachbarland Österreich, wo offensichtlich noch eine frischere Diskussionskultur in solchen Fragen gepflegt wird: Dort berichteten Der Standard [7] und Die Presse [8] darüber.

Mangelnde Erstinformationen oder ein generelles Desinteresse an derart einschneidenden und folgenschweren Gesetzgebungsprozessen in anderen europäischen Ländern können demnach schwerlich herhalten, um die geschlossene Enthaltsamkeit der öffentlich-rechtlichen Sender und der deutschen Konzernpresse hinreichend zu erklären. Die omnipräsenten Nachwehen des G20-Gipfels in Hamburg haben zweifellos diverse andere Themen in den Schatten gestellt, taugen aber wiederum nicht zum pauschalen Bügeleisen, alle und jede Ungereimtheiten zu glätten. Aus welchen Motiven heraus es die hiesige Medienlandschaft ausgerechnet an dieser Stelle unterließ, ihrem Informationsauftrag nachzukommen, läßt sich nicht im Schnellschuß dingfest machen.

Dabei hatte der Datenschutzbeauftragte keineswegs übertrieben, als er eine vertiefte anlaßlose Überwachung der eigenen Bürger auch in den Niederlanden kritisierte. Dort dürfen die Sicherheitsbehörden und Geheimdienste vom nächstem Jahr an einen Großteil der kabelgebundenen Datenströme überwachen und die so gewonnenen Daten bis zu drei Jahre speichern. Dies umfaßt die E-Mail-Kommunikation, Einträge in sozialen Netzwerken, aber auch Telefongespräche, wobei es den Behörden ermöglicht werden soll, etwa neben den Metadaten der Telekommunikation auch besuchte Websites zu protokollieren. Zudem steht die Überwachung nicht mehr unter einem Richtervorbehalt, sondern wird künftig von dem Innen- und dem Verteidigungsminister genehmigt. Die Resultate dürfen überdies mit "befreundeten" Geheimdiensten geteilt und an verbündete Länder weitergegeben werden. Angesichts dieser gravierenden Verschärfungen üben Oppositionsparteien sowie Juristen und Datenschützer scharfe Kritik. Mehr als ein Dutzend Bürgerrechtsorganisationen haben Klagen gegen das Gesetz angekündigt, darunter der Journalistenverband, die Vereinigung Privacy First und die Vereinigung der Strafgerichtsanwälte.

Daß das neue Abhörgesetz kein spezifisch niederländisches Phänomen, sondern in einer gesamteuropäischen Kette einzugliedern ist, hebt auch der deutsche Datenschutzbeauftragte ausdrücklich hervor. So wurde im November 2016 mit dem Investigatory Powers Act in Großbritannien eines der extremsten Überwachungsgesetze rechtskräftig, das je in einer Demokratie beschlossen worden war. Es verpflichtet unter anderem Internetanbieter, für jeden Kunden eine Liste aller besuchten Internetseiten zwölf Monate lang zu speichern. Sicherheitsbehörden dürfen zu Hackern werden und massenhaft Überwachungsdaten sammeln. Auch die Listen kontaktierter Telefonnummern und aufgerufener Internetseiten von Journalisten müssen ausgehändigt werden, wenn ein Richter das anordnet. Damit nicht genug, sollen Entwickler künftig Hintertüren oder Schwachstellen in eigene Produkte einbauen, damit ihre Kunden überwacht werden können. [9]

Im Frühjahr 2017 legte dann die Bundesregierung nach und prügelte ein ganzes Paket neuer Überwachungsgesetze im Eiltempo durch Ausschüsse, Bundestag und Bundesrat, um kurz vor Ende der Legislaturperiode einen Blitzkrieg gegen die Bürgerrechte durchzutragen. Aus einer breiten Palette an Ungeheuerlichkeiten stechen erweiterte Befugnisse der Polizei hervor: Ermittler sollen künftig mit Zustimmung eines Richters sogenannte Staatstrojaner auf Handys und Computer von Verdächtigen aufspielen dürfen. Mit der Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ) sollen Nachrichten sogar schon im Rechner des Absenders abgefangen werden, bevor sie verschlüsselt werden. Und dies soll künftig nicht nur zur Terrorabwehr, sondern auch bei Straftaten wie Mord, Totschlag, Steuerhinterziehung oder Geldfälschung eingesetzt werden. Das BKA-Gesetz erweitert Zuständigkeiten des Bundeskriminalamts und hebt das Trennungsgebot zwischen Polizei und Nachrichtendiensten auf, das sich aus dem Verfassungsprinzip des Rechtsstaats ableitet. Geheimdienste dürfen Ausweis- und Paßbilder vollautomatisch abrufen, das neue Bundesdatenschutzgesetz weicht den Datenschutz auf, wovon vor allem Videoüberwachung, Scoring, Profiling und Gesundheitsdaten betroffen sind. Und nicht zuletzt tritt die Vorratsdatenspeicherung in Kraft. [10]

Wer an dieser längst nicht vollständigen Auflistung der Gesetzesänderungen in allen drei Ländern moniert, ihr Fachjargon überfordere die Mehrzahl der Medienkonsumenten, die sich dafür ohnehin kaum interessierten, trifft den Nagel wohl auf den Kopf. Die tiefgreifende Umwälzung der gesellschaftlichen Produktionsweise, sozialen Bezüge und staatlichen Kontrolleingriffe auf Grundlage der Informationstechnologie ist ungeachtet das tagtäglichen Umgangs mit diversen Endgeräten für viele Menschen ein Buch mit sieben Siegeln, das zu schreiben sie in erschreckender Bereitwilligkeit den vorherrschenden ökonomischen, politischen und administrativen Interessen überlassen.

Sollten die deutschen Medienmacher fast unisono davon ausgegangen sein, daß man mangels Publikumsinteresses von dem neuen Überwachungsgesetz in den Niederlanden gar nicht erst berichten müsse, wäre das recht dreist. Schließlich sollte der mediale Auftrag auch und gerade die Aufbereitung und Vermittlung schwer verdaulicher Kost beinhalten sollte, nicht aber den vorauseilenden Verzicht auf komplexere Zusammenhänge und mögliche Lerneffekte. Befriedigen kann die Annahme ohnehin nicht, es habe sich um nichts weiter als eine zufällige Unterlassung oder allenfalls einen Fauxpas gehandelt, dem man keine Bedeutung beimessen sollte. Es fällt doch auf, in welchem Maße die einander sehr ähnlichen, sich gegenseitig ergänzenden und den Gesamtkomplex verschärfenden Überwachungsgesetze in Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden immer weniger erläutert, diskutiert und kritisiert werden, als gelte es vor allen Dingen, keine schlafenden Hunde zu wecken und die Gesamtschau einzutrüben, bis es zu spät für wirksame Bremsmanöver ist.

Der blinde Fleck hat offenbar System, was uns zurück zur eingangs angerissenen Sprachbetrachtung bringt. Einige Überlegungen weiter gewinnen nun eher folgende - natürlich selektiv bevorzugte - Aphorismen Kontur: "Schweigen ist die Ehre der Sklaven" (Publius Cornelius Tacitus) oder ebenfalls nicht schön: "Schweigen kann die grausamste Lüge sein" (Robert Louis Stevenson). Wem das zu brachial und moralisierend daherkommt, dem wird sicher der William Shakespeare zugeschriebene Sinnspruch besser gefallen: "Der Fuchs bellt nicht, wenn er das Lamm stehlen will."


Fußnoten:

[1] Gespräch mit "Brigitte"-Chefredakteurin Brigitte Huber und Chefreporterin Meike Dinklage am 2. Mai 2013.

[2] https://www.datenschutzbeauftragter-info.de/niederlande-verabschiedet-umfassendes-ueberwachungsgesetz/

[3] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Niederlande-verabschieden-umstrittenes-Abhoergesetz-3770403.html

[4] https://www.jungewelt.de/artikel/314323.neues-abhörgesetz-in-niederlanden.html

[5] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1057133.niederlande-verabschieden-umstrittenes-abhoergesetz.html

[6] https://deutsch.rt.com/newsticker/53980-niederlande-verabschieden-abhorgesetz/

[7] http://derstandard.at/2000061203708/Niederlande-verabschiedeten-umstrittenes-Abhoergesetz

[8] http://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5251228/Niederlande_Gruenes-Licht-fuer-Abhoergesetz

[9] https://www.heise.de/newsticker/meldung/Grossbritannien-Massives-Ueberwachungsgesetz-inkraft-getreten-3518905.html

[10] https://digitalcourage.de/blog/2017/ueberwachungsgesetze-im-dutzend-chilliger

19. Juli 2017


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