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REPRESSION/1556: Auf Messers Schneide - Erdogans Präsidialsystem verhindern! (SB)



"Wenn Gott will, wird die Türkei am Abend des 16. April ein neues Zeitalter beginnen!" Für diesen Tag sei das Referendum über die Verfassungsänderung geplant, sagte Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus im Staatssender TRT. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat fast drei Wochen nach der Verabschiedung im Parlament das Gesetz für ein Präsidialsystem unterschrieben und damit den Weg für die Volksabstimmung freigemacht. Nach der Veröffentlichung im Amtsanzeiger wird die Wahlkommission das Datum für das Referendum endgültig festlegen. Kommt bei dem Votum eine einfache Mehrheit für die Verfassungsreform zustande, wird das parlamentarische System in der Türkei durch ein Präsidialsystem mit deutlich mehr Machtbefugnissen für Erdogan ersetzt. [1]

Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP hatte die von Erdogan betriebene Verfassungsreform am 21. Januar mit Stimmen aus der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP im Parlament mit einer Dreifünftelmehrheit durchgesetzt. In zweiter Lesung stimmten 339 Parlamentarier dafür, neun mehr als benötigt. MHP-Chef Devlet Bahceli und zahlreiche MHP-Abgeordnete unterstützen das auch in ihrer Partei umstrittene Vorhaben. Die größte Oppositionspartei CHP und die pro-kurdische HDP lehnen sie entschieden ab, im Parlament kam es zu tumultartigen, mitunter sogar handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern.

Angesichts des von Regierungsseite angedrohten neuen Zeitalters warnt die Opposition vor einer "Diktatur" unter einem "Sultan Erdogan" in der Türkei. Sollte die Volksabstimmung zugunsten des Erdogan-Regimes ausgehen, würde der Präsident zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren und könnte weitgehend per Dekret regieren. Der Posten des Ministerpräsidenten würde abgeschafft, das Parlament entmachtet. Erdogans Einfluß auf die Justiz würde weiter zunehmen, so daß ein Ende der formalen Gewaltenteilung abzusehen wäre. Die Umsetzung der Verfassungsreform würde schrittweise erfolgen, mit einer für November 2019 geplanten Wahl von Präsident und Parlament soll sie abgeschlossen werden. [2] Die Amtszeiten des Präsidenten wären zwar weiterhin auf zwei begrenzt, die Zählung würde jedoch unter dem Präsidialsystem mit der Wahl im November 2019 neu beginnen. Theoretisch könnte Erdogan durch eine Hintertür in den Verfassungsänderungen bis zum Jahr 2034 im Amt bleiben, sofern er die jeweiligen Wahlen gewinnt. [3]

Kritiker beanstandeten bereits unmittelbar nach dem Votum im Abgeordnetenhaus, daß die Auseinandersetzung über die Reform mit höchst ungleichen Mitteln geführt werde. Auf der einen Seite steht der Staatsapparat mit einem Präsidenten an der Spitze, der sämtliche Organe, Polizei, Justiz und Medien kontrolliert. Auf der anderen eine Opposition, die vom Regime mit repressiven Mitteln zermürbt wird. In den vergangenen Wochen hat die Regierung den Druck auf Oppositionelle weiter erhöht. Laut Medienberichten ging die Polizei in verschiedenen Städten gegen Bürger vor, die für ein "Nein" zum Präsidialsystem warben. [4] So wurden am vergangenen Sonnabend in Istanbul linke Aktivisten von der Polizei mit Schußwaffen bedroht und mehrere Flugblattverteiler festgenommen. In der Stadt Diyarbakir wurde mit der HDP-Abgeordneten Leyla Zana eine weitere prominente Regierungskritikerin verhaftet. [5]

Wenngleich zumeist davon die Rede ist, daß ein knapper Ausgang des Referendums zu erwarten sei und Vorhersagen daher bloße Mutmaßungen blieben, ist ein Erfolg des Regimes keineswegs sicher. Laut einer am vergangenen Wochenende veröffentlichten Erhebung des renommierten Gezici-Instituts wollen 58 Prozent der Wähler gegen die Einführung des Präsidialsystems stimmen. Diesen Wert hatte das Institut bereits im Dezember ermittelt. Selbst ein Drittel der AKP-Anhänger sowie 70 Prozent der Gefolgschaft der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) lehnen die Verfassungsänderungen ab. Innerhalb der MHP, deren Parlamentsfraktion den Entwurf offiziell mitträgt, hat sich eine Oppositionsgruppe gegen den von Parteiführer Devlet Bahceli vertretenen Kurs der Unterordnung unter die AKP gebildet. Mehrere MHP-Abgeordnete, der Jugendverband sowie die der Partei nahestehende Beamtengewerkschaft Kamu-Sen rufen zum "Nein" auf.

Das Lager der Gegner des Präsidialsystems gruppiert sich um die kemalistisch-sozialdemokratische Republikanische Volkspartei (CHP) sowie die linke und prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). Der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu kündigt eine Graswurzelkampagne an, um die Bevölkerung darüber aufzuklären, warum die Verfassungsänderung antidemokratisch und gefährlich sei. Es handle sich um "eine Lebensfrage für das ganze Land". Nach den Worten des Fraktionsvorsitzenden der HDP, Ahmet Yilmaz, würde bei einem Erfolg des "Nein" ein dauerhafter und würdiger Frieden gewinnen und das von AKP und MHP vorgeschlagene rassistische, nationalistische und militaristische Konzept verlieren. Auch die kleinen sozialistischen Parteien Emek Partisi (Partei der Arbeit) und ÖDP (Partei der Freiheit und Solidarität) sowie die Kommunistische Partei (KP) kündigten Kampagnen für ein "Nein" an.

Das Regime ergänzt die Peitsche gegen seine Gegner um ein Zuckerbrot für die Wählerschaft, deren Gunst sie unter anderem mit Steuersenkungen auf Immobilien und Haushaltsgeräte zu locken versucht. Sollte sich eine Niederlage der AKP-Regierung beim Referendum abzeichnen, stehen manipulative Eingriffe zu befürchten, die das gewünschte Ergebnis durch Fälschung erzwingen. Wird das Präsidialsystem dennoch mehrheitlich abgelehnt, könnte es zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Scheiterten in diesem Fall sowohl die MHP als auch die HDP an der Zehnprozenthürde, käme die AKP allein auf die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament. Da ihr diese bislang fehlt, mußte sie den Umweg über das Referendum nehmen, für das eine Dreifünftelmehrheit ausreicht.

Um zu verhindern, daß sich Recep Tayyip Erdogan mehr denn je auf "das Volk" berufen kann, dessen Willen er in all seinem Streben diene, bedürfen die von ihm drangsalierten Gegner der Verfassungsänderung jeglicher Unterstützung in ihrem Kampf, ihm eine Abfuhr zu erteilen. Auf Angela Merkel können sie dabei eher nicht setzen. Zwar hatte die Bundeskanzlerin bei ihrem jüngsten Besuch in der Türkei gemahnt, daß gerade in einer Phase tiefgreifenden Umbruchs nach dem Putschversuch im Juli 2016 alles dafür getan werden müsse, um Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit und die Vielfalt der Gesellschaft zu bewahren. Auch merkte sie mit Blick auf das Präsidialsystem bei einer Pressekonferenz mit Erdogan kritisch an: "Opposition gehört zu einer Demokratie dazu. Das erfahren wir alle miteinander jeden Tag in demokratischen Staaten." Da diesen diplomatischen Worten, die hierzulande mit der medialen Anerkennung quittiert wurden, auf die sie gemünzt waren, keine Taten folgen, hat das Regime in Ankara aus Richtung der Bundesregierung keine ernsthaften Störmanöver bei seiner Machtergreifung zu befürchten.


Fußnoten:

[1] http://www.dw.com/de/erdogan-macht-weg-frei-für-verfassungsreferendum/a-37494162

[2] http://www.tagesschau.de/ausland/erdogan-verfassungsreform-101.html

[3] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-02/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-verfassungsreform-unterzeichnet-referendum

[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-recep-tayyip-erdogan-unterzeichnet-umstrittene-verfassungsreform-a-1133989.html

[5] https://www.jungewelt.de/2017/02-09/089.php

10. Februar 2017


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