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REPRESSION/1550: Sultanat von Gnaden der EU (SB)



Mit der Machtergreifung läuft das Regime Recep Tayyip Erdogans und der AKP aus dem Ruder der Rechtsstaatlichkeit und parlamentarischen Demokratie, nicht jedoch aus jenem der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, der NATO-Mitgliedschaft und des Antiterrorkampfs. Wenngleich Erdogan den Westen offen verhöhnt, dessen Forderungen völlig irrelevant für ihn seien, und sich damit vor seinen Landsleuten als Sachwalter ihrer Ehre und neuer Stärke des Landes in die Brust wirft, hat er die maßgeblichen Verbindungen keineswegs gekappt. Weder wurden die wirtschaftlichen Beziehungen eingeschränkt noch das Flüchtlingsabkommen aufgekündigt. Die türkischen Streitkräfte bekämpfen inzwischen auch die Milizen des IS und der Fortbestand des Luftwaffenstützpunkts bei Incirlik ist nicht gefährdet. Umgekehrt sieht man aus Sicht deutscher und europäischer Regierungspolitik offenbar viele Gründe, Erdogans despotischen Aufstieg zu geißeln, aber keinen, mit Sanktionen zu intervenieren. Das Mantra, man dürfe die Beziehungen zur Türkei nicht abbrechen, da dies die Opposition isolieren würde, verkommt zur Rechtfertigung der Kollaboration mit einem Regime, das gerade darangeht, die letzte Schwelle zur Diktatur zu überschreiten.

Nachdem das Parlament in Ankara die Verfassungsänderung gebilligt hat, mit dem Erdogan die türkische Republik in ein auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem umzuwandeln trachtet, müssen als letzte Hürde die Wählerinnen und Wähler in einem Referendum zustimmen. Man kann davon ausgehen, daß der Staatspräsident nichts unversucht lassen wird, eine Mehrheit für sein Vorhaben zu erwirtschaften, aber zugleich Pläne schmiedet, mittels Repression und Manipulation unter allen Umständen ein Votum zu seinen Gunsten sicherzustellen. Es wäre fatal, auf ein demokratisches Verfahren zu vertrauen, zumal die Regierung jegliche Opposition unterdrückt und verfolgt. Seit die AKP 2002 an die Macht gekommen ist, hat sie Zug um Zug jede Hoffnung auf eine liberale "Zweite Republik" pulverisiert und die Extremform des starken Staates unter der unumschränkten Führerschaft Erdogans durchgesetzt.

Kontrollmechanismen zur Sicherung der Gewaltenteilung sieht die neue Verfassung nicht mehr vor. Als Präsident könnte Erdogan bis 2029 an der Spitze des Landes stehen und als Regierungschef Minister ernennen, die nur ihm gegenüber verantwortlich sind. Er könnte per Dekret regieren, das Parlament nach Belieben auflösen und als Vorsitzender der AKP deren Kandidaten für die Parlamentswahl auswählen. Überdies würde Erdogan die führenden Richter und Staatsanwälte ernennen. Dies geht über den herrschenden Ausnahmezustand wie auch die Präsidialdemokratien der USA und Frankreichs weit hinaus, an denen sich Erdogan nur dem Schein nach orientiert. [1]

Gemäß den türkischen Gesetzen könnte das Referendum am 2. oder 9. April stattfinden. In einer Übergangszeit bis zur nächsten Präsidentenwahl 2019 könnte Erdogan bereits die neuen Vollmachten nutzen, die nach seinen Worten effizientere Entscheidungsprozesse im Staatsapparat ermöglichen und Stabilität garantieren, de facto jedoch ein System seiner Alleinherrschaft etablieren. Im Parlament hatten die AKP und die rechte Nationalistenpartei MHP gegen teilweise erbitterten Widerstand der Opposition in einer zweiwöchigen Debatte ein Paket aus 18 Verfassungsänderungen durchgesetzt, das der Wählerschaft im April vorgelegt werden soll. Da Umfragen zufolge in der Bevölkerung bislang keine Mehrheit für die Verfassungsänderung in Aussicht steht, hat Erdogan nur wenige Stunden nach dem Parlamentsbeschluß den Wahlkampf eröffnet. In einer Rede in Istanbul rief er seine Landsleute dazu auf, bei der Volksabstimmung die "eigentliche Entscheidung" zugunsten eines Präsidialsystems zu fällen.

Obgleich die Opposition angesichts der zunehmenden Ausschaltung unabhängiger Medien in einer verzweifelten Lage ist, setzt sie den Kampf gegen das Präsidialsystem entschieden fort. "Unser Volk hat Demokratie, Frieden, Wohlstand und Freiheit verdient, nicht die Diktatur", so der Oppositionsabgeordnete Ali Seker. Der ehemalige Chefredakteur der Cumhuriyet, Can Dündar, spricht von einem "Selbstmord" des Parlaments und warnt, die Türkei sei an einem historischen Punkt angelangt: "Aus dem demokratischen könnte ein autoritärer Staat werden." Dündar wurde in der Türkei wegen Geheimnisverrats zu fünf Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt. Er legte Revision ein und lebt seit Monaten in Deutschland. Der Vorsitzende der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioglu, sieht ein "Sultanat" heraufziehen.

Der Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kilicdaroglu, wirft dem Parlament vor, es habe mit der Zustimmung zum Präsidialsystem "Verrat" an seiner Geschichte begangen und die "eigenen Machtbefugnisse" abgetreten. Es sei eine "Katastrophe", wenn eine Person die gesamte Macht erhalte. Auch die pro-kurdische Oppositionspartei HDP lehnt das Präsidialsystem strikt ab. Elf HDP-Parlamentarier sitzen seit November wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft, unter ihnen die Parteichefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. [2]

Als erfahrener Volkstribun wird Erdogan alle Register ziehen und vermutlich auch rechte Wähler mit dem Versprechen auf Wiedereinführung der Todesstrafe ködern. Daß die EU für diesen Fall mit einem Abbruch der Beitrittsverhandlungen droht, interessiere ihn nicht, hob Erdogan erneut hervor. Gleiches gilt für einen Bericht des EU-Geheimdienstforums INTCEN, dem zufolge Erdogan schon vor dem Putschversuch vom Juli vergangenen Jahres die Verfolgung politischer Gegner vorbereitet hatte. Auch sei der Umsturzversuch nicht direkt von dem im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen angeordnet wurde, wie das Erdogan behauptet. Wahrscheinlicher sei es, daß der Putsch von mehreren Gruppen angezettelt wurde, zu denen Gülen-Anhänger, aber auch strikt säkularistische Offiziere und andere AKP-Gegner gehörten. [3]

Wie Erdogan schon jetzt mit der Justiz umspringt, zeigte sich unter anderem am Fall Dündar. Nachdem das Verfassungsgericht die Inhaftierung des Journalisten und die seines Kollegen für unrechtmäßig erklärt hatte, wurden die beiden Männer freigelassen. Daraufhin kritisierte der Präsident die Entscheidung öffentlich als gegen die Türkei gerichtet und drohte: Sollten sich solche Dinge wiederholen, würde dies die Legitimität des Gerichts in Frage stellen. Kritische Journalisten werden als Terrorverdächtige verfolgt, oppositionelle Medien geschlossen, Staatsanwälte abgesetzt, Tausende mutmaßliche Anhänger des Predigers Fetullah Gülen ihrer Posten enthoben. Offene Diskussionen über das Vorgehen der Regierung sind kaum möglich. Von einer angemessenen Information der Öffentlichkeit über den konkreten Inhalt der geplanten Verfassungsänderungen kann keine Rede sein.

Erdogan wird den Ausnahmezustand in vollem Umfang ausschöpfen, um einen offenen Diskussionsprozeß und eine demokratisch zu nennende Meinungsbildung über das Referendum zu verhindern. Gelingt es ihm dennoch nicht, in einem Klima umfassender Einschüchterung und Verfolgung kritischer Positionen die erforderliche Zustimmung zu erzwingen, wird er beim Urnengang nachhelfen und hinterher alle Zweifel an dessen regulärem Ablauf vom Tisch wischen. Spürbare Reaktionen der EU oder einzelner europäischer Regierungen hat er nicht zu befürchten.


Fußnoten:

[1] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kommentar-erdogans-neue-tuerkei-14727199.html

[2] http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-worueber-recep-tayyip-erdogan-sein-land-abstimmen-lassen-will-a-1130689.html

[3] http://www.general-anzeiger-bonn.de/news/politik/ausland/Erdogan-läutet-Wahlkampf-vor-Referendum-ein-article3455568.html

23. Januar 2017


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