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REPRESSION/1461: Vom "Sommermärchen" in den autoritären Staat (SB)




Öffentliche Versammlungen gewaltbereiter Menschen sind in Deutschland gang und gäbe. Wenn Fußballfans sich prügeln, unbeteiligte Passanten angehen oder rassistische Parolen schmettern, ist das der gesellschaftliche Normalfall, den zu akzeptieren so selbstverständlich ist wie der Menschenrechtsimperialismus, mit dem andere Regierungen gemaßregelt werden. Bei der Zivilreligion des Fußballs ist jedes Wochenende Gottesdienst, und die Pfaffen des Sports sind nicht weniger verlogen als ihre papistischen Vorbilder, wenn sie den Fußball für politische Zwecke instrumentalisieren, aber es nicht wagen, den Fans den angeblichen Ernst der Lage vor Augen zu führen, indem sie die Inszenierung des Martyriums einer strafrechtlich verurteilten Multimillionärin mit der Drohung beenden, die ganze Party abzusagen.

Der angeblich "positive Patriotismus" des sogenannten "Sommermärchens" 2006 bestätigt sich sechs Jahre später als jene nationalrestaurative Zäsur, die Kritiker schon damals in dem Aufwallen eines angeblich harmlosen und spielerischen Nationalismus erkannten. Wenn im Stadion mit dem Motto "Steh auf, wenn du ein Deutscher bist" für die La-Ola-Welle mobilisiert werden kann, ohne daß noch jemand rot wird, weiß man, was die Stunde geschlagen hat. Wenn Aktionen und Demonstrationen gegen Bankenmacht und Finanzkapital verboten werden, die Schlagzeilen der das Land indoktrinierenden Massenmedien aber nur von den Skandalen des Fußballs künden, anstatt Alarm wegen der drohenden Aufhebung bürgerlicher Rechtsgarantien zu schlagen, dann wissen linke Aktivistinnen und Aktivisten, womit sie es in dieser Republik zu tun haben.

Deutschland ist nur nicht wieder wer, Deutschland ist Europas Führungsmacht, die wie selbstverständlich anderen Regierungen Vorschriften macht oder sie gleich ganz durch Technokratenregimes ersetzt, die die uneinsichtigen Bevölkerungen Mores darüber lehren, warum das herrschende Wirtschaftssystem dadurch gerettet werden muß, daß es dem Gros der Menschen immer schlechter geht. Die bittere Konsequenz einer scheiternden Krisenregulation ist Krieg, darüber werden die Menschen nicht im Unklaren gelassen, wenn Bundeskanzlerin Merkel ihnen erklärt, daß das Scheitern des Euro das Scheitern Europas und damit den Rückfall in die Epoche nationalstaatlicher Konkurrenz bedeutete. Eine Steigerung der bereits EU-immanenten Staatenkonkurrenz kann nur Krieg bedeuten. Kriege werden von Staaten geführt, wie der Überfall der NATO auf Jugoslawien belegte, der nicht der einzige Ordnungskrieg bleiben soll, der Europa seit dem Zweiten Weltkrieg heimsucht.

Die Blockupy-Proteste, die trotz aller Repressalien noch in einer großen Demonstration mit 25.000 Teilnehmern mündeten, waren als ausdrückliche Solidaritätsbekundungen an die besonders stark von der Wirtschaftskrise betroffenen Peripheriestaaten der EU gedacht. Diese Manifestation wurde durch die Versammlungsverbote zwar nicht unmöglich gemacht, nun trat jedoch der Widerstand gegen staatliche Repression in den Vordergrund. Ihn unter Verweis auf ein Grundgesetz zu legitimieren, das bei allen schützenswerten Grundrechten die Verfassung eines antikommunistischen Frontstaates ist, die beim Anschluß der DDR verfassungswidrig nicht als gemeinsame Verfassung aller Bürger neu konstituiert wurde, verweist nicht nur in Anbetracht dessen, daß sich die Bundesregierung in Sachen Menschenrechte und Demokratie als Schulmeisterin gegenüber anderen Regierungen aufspielt, auf eine argumentative Schwäche linker Opposition. Das gilt auch für Vergleiche mancher Aktivistinnen und Aktivisten, die die Versammlungsverbote in den negativ gemeinten Kontext der DDR oder Weißrußlands stellten.

Sich frei von einer nationalistischen Suprematie zu machen, die ihr Mütchen an den staatsautoritären Praktiken anderer Regierungen kühlt, um die Aufhebung von Grundrechten im eigenen Land vergessen zu machen, betrifft auch die kritische Überprüfung der Legalismen, die der kapitalistischen Klassengesellschaft ein freiheitliches Gewand überwerfen. Wenn ein per Gesetz ohnehin eingeschränktes, da unter Vorbehalt seiner Aufhebung stehendes Versammlungsrecht nicht eingeschränkt wird, ist es immer noch Ausdruck einer paternalistischen Verfügungsgewalt, die gänzlich unter die Kuratel der Exekutive zu stellen spätestens seit Einführung der Notstandsrechte 1968 jederzeit möglich ist. Eine Linke, die dieses Recht selbstbewußt in Anspruch nimmt, wenn es von Staat und Kapital aufgehoben wird, beraubt sich ihrer Schlagkraft, wenn sie sich auf ein Grundgesetz beruft, dessen Vergesellschaftungsoption und Widerstandsrecht so lange Feigenblätter des realpolitischen Gegenteils bleiben, als die Mehrheit der Menschen zugunsten dieser Herrschaftsform ökonomisch und kulturell ausblutet. Wenn die politische Realität von einer Großmachtpolitik, in der die unselige großdeutsche Vergangenheit wiederaufersteht, und der sozialrassistischen Zurichtung der Bevölkerung auf neue Formen sklavenähnlicher Unterwerfung bestimmt ist, dann verkehrt sich selbst das Gleichheitspostulat in ein Instrument optimierter Verwertung unter dem Primat tauschwertäquivalenter Vergleichbarkeit. Grundrechte zu verteidigen, indem man ihre konstitutionelle Grundlage ideologisch überdeterminiert, stärkt diejenigen, die diese Ideologie am erfolgreichsten zum Trittbrett eigener Interessendurchsetzung machen, und das ist ganz bestimmt nicht die Linke.

2006‍ ‍war der Widerstand gegen die nationalistische Restauration auch deshalb schwach, weil nicht wenige Linke selber Fußballfans sind und den anderen nicht die Feierlaune verderben wollten. Die Leichtfertigkeit, mit der das große "Wir" der Beschwichtigungsmaschinerie und die affirmative Gleichschaltung der gute Laune-Medien zu einem vorübergehenden, dem Anlaß Fußball-WM geschuldeten Phänomen verharmlost wurde, findet in der Ignoranz dieser Gesellschaft gegenüber den Frankfurter Versammlungsverboten ihren Widerhall. So wenig es ausrichtet, sich auf eine Verfassung zu berufen, mit der Angriffskriege geführt werden können, obwohl sie ausdrücklich verboten sind, so viel kann die Offenlegung kapitalistischer Widerspruchslagen dazu beitragen, Streitbarkeit und Widerstand gegen die Formierung einer von den Imperativen der Arbeitsgesellschaft bestimmten Volksgemeinschaft zu entwickeln. In Griechenland geht es der Bevölkerung an die Existenz, und sie versucht, ihr fremdverfügtes Schicksal durch die Stärkung einer gegen die eigene Ausplünderung gerichteten radikalen Linken wieder in die eigenen Hände zu bekommen. Daß man in Deutschland glaubt, den Kapitalismus auf dem Rechts- und Instanzenweg abschaffen zu können, ist der bis weit in die Linke hineinreichenden Verkennung geschuldet, man könne sich mit den herrschenden Gewaltverhältnissen und Klassenantagonismen arrangieren, ohne dabei immer weiter an Handlungsfähigkeit zu verlieren.

20.‍ ‍Mai 2012