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REPRESSION/1431: Zur Kenntlichkeit entstellt - Antiextremismus aus der Mitte der Gesellschaft (SB)



Der von den deutschen Sicherheitsbehörden verwendete Extremismusbegriff demonstriert anhand des norwegischen Massenmörders Anders Behring Breivik seinen apologetischen Charakter. Indem alles, was verdächtigt wird, dem positiven Bekenntnis zur "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" nicht zu genügen, unter diese Kategorie subsumiert wird, leistet sich der umfangreiche wissenschaftliche Apparat in Staatsschutzbehörden und Geheimdiensten eine affirmative Blindheit, die zu Lasten seiner analytischen und prognostischen Fähigkeiten gehen dürfte. Aufgekehrt mit dem groben Besen, der alles über den Kamm einer totalitarismustheoretischen Gleichung schert, wird jede Form politischen Aufbegehrens, was den Nutzen potentiellen Versagens belegt.

Unangreifbar für wirksame Kritik soll der ideologische Mainstream eines Demokratie- und Verfassungsverständnisses gemacht werden, dessen liberales Credo Freiheit für das Kapital und Repression für dagegen gerichteten Widerstand vorsieht. Wo die Staatsräson auf undemokratische Weise - etwa bei der Zugehörigkeit der Bundesrepublik zu einem seinem originären Auftrag zuwiderhandelnden Militärbündnis, bei Rüstungsexporten in Krisengebiete, bei der Begünstigung von Kapitalinteressen durch Lobbyisteneinfluß, bei der Einführung eines antidemokratischen Notstandsrechts oder bei folgenreichen Entscheidungen auf europapolitischer Ebene - durchgesetzt wird, ordnen sich Judikative und Legislative allzuhäufig ohne großes Murren der Exekutive nach. Voraussetzung ist die Definitionshoheit über die Exegese der Grundrechte, die auch letztinstanzlich beim Bundesverfassungsgericht einem ideologisch formierten Urteil den Zuschlag geben kann. Das KPD-Verbot 1956 ist ein Paradebeispiel für die antikommunistische Engführung eines Verfassungsverständnisses, das, wenn man das Grundgesetz beim Wort nähme, auch zu ganz anderen Ergebnissen gelangen könnte.

Seit sich gezeigt hat, daß der selbsternannte "Kommandeur im antikommunistischen Widerstand gegen die Islamisierung" [1] Breivik einer mit den ideologischen Dispositionen der neuen islamfeindlichen, antikommunistischen, proamerikanischen und proisraelischen Rechten weitgehend übereinstimmenden Weltanschauung frönt, haben die Staatsschutzbehörden und Geheimdienste der Bundesrepublik das Problem, einen passenden Deckel für diesen Topf zu finden. Unmittelbar nach dem Massaker am 22. Juli in Deutschland laut werdende Forderungen nach Einführung der Vorratsdatenspeicherung, nach Zensur des Internets und nach der Observation und Registrierung abweichender politischer Ansichten können nicht davon ablenken, daß Breiviks Ideologie einer herrschaftsaffinen Strömung weißer europäischer Identitätsbildung entspringt.

Wenn wirksam gegen die vom Verfassungsschutz bereits befürchteten Nachahmungstäter vorgegangen werden sollte, dann müßte der Breivik antreibenden Ideologie zumindest der gleiche Stellenwert potentieller Bedrohlichkeit zugewiesen werden wie anderen als extremistisch bezeichneten Gesinnungen. Ihn des Wahnsinns zu bezichtigen und auf Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren bricht demgegenüber mit der Verfahrensweise, den "islamistischen Terrorismus", wie es nach den Anschlägen des 11. September 2001 geschah, rundheraus als Kriegserklärung zu begreifen. Warum sollten mutmaßliche Täter arabischer Herkunft mehr Anspruch darauf haben, in ihrer zerstörerischen Strategie ernstgenommen zu werden, als ein Anders Behring Breivik, dessen Weltanschauung so wahnsinnig auch immer sein kann, ohne den rationalen Charakter von Planung und Ausführung seiner "Mission" zu tangieren? Die Antwort ist einfach - die angebliche Kriegserklärung des 11. September 2001 diente als Vorwand zum umfassenden Ausbau repressiver und kriegerischer Handlungsgewalt der sich als angegriffen verstandenen westlichen Staatenwelt.

Einen Massenmörder wie Breivik lediglich als "Attentäter" und "Rechtsextremisten" zu führen, wie es sich seit dem 22. Juli in Medien und Behörden durchgesetzt hat, ist zumindest in letzterem Fall grob irreführend. Der Norweger ist kein judenhassender Neonazi, der seine Anhänger vor allem unter den gesellschaftlichen Verlierern rekrutiert und das antisemitische Feindbild einer jüdisch-amerikanischen Plutokratie nährt. Sein Selbstverständnis westlicher Suprematie und eines kulturalistischen christlichen Fundamentalismus weist eine große Schnittmenge mit dem jener bürgerlichen Eliten auf, die sich in islamfeindlichen Parteien rechtsliberalen Zuschnitts tummeln und vollständig d'accord mit den imperialistischen Kriegen gegen mehrheitlich islamische Staaten gehen. Breivik ist kein völkischer Nationalist, sondern hat mit dem großen Strom westlicher Islamfeindlichkeit das Streben nach Konstitution eines in europäisch-christlicher Tradition wurzelnden Subjekts imperialer Herrschaft gemein. Seine Xenophobie und sein Sozialchauvinismus erfreuen sich gerade unter arrivierten bürgerlichen Eliten wachsender Beliebtheit, wie die vor dem Hintergrund des aktuellen Geschehens besonders aufschlußreiche Langzeitstudie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld nachgewiesen hat [2].

Da der staatliche Antiextremismus nicht über den Schatten der ihm als Element exekutiver Widerspruchsregulation inhärenten rassistischen und sozialfeindlichen Dispositionen springen kann, gibt er Anlaß zu Forderungen nach einer allgemeinen Verschärfung der Repression. Je unbestimmter die aufzuklärenden und abzuwehrenden Bedrohungen sind, desto glaubwürdiger läßt sich die Staatsgewalt für ganz andere Zwecke als die der vorgeblichen Gefahrenabwehr einsetzen. An Anlässen dazu besteht aufgrund der zugespitzten sozialen Widersprüche kein Mangel, so daß der apologetische Antiextremismus dem Kalkül eines Breivik, bürgerkriegsartige Konfrontationen zu entfesseln, eher zuarbeitet denn ihm entgegenwirkt. Daß dieser sein Massaker mitten aus der bürgerlichen Gesellschaft heraus begehen konnte, belegt den politisch instrumentellen Charakter der die Mitte der Gesellschaft durch die Stigmatisierung ihrer Ränder bestimmenden Extremismusdoktrin.

Fußnoten:

[1] http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5hdeSsitulhuzqtxpaV9rN2DVrAvQ?docId=CNG.7a3f896c191fbefa24251e08f6a545e5.111

[2] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub0972.html

3. Juli 2011