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REPRESSION/1382: Märtyrer Garzón - Verklärter Türöffner der Weltjustiz (SB)



Baltasar Garzón Real gehörte seit 1988 als einer von sechs Untersuchungsrichtern der Audiencia Nacional, dem höchsten spanischen Strafgerichtshof, an. Während in anderen Staaten die Ermittlungen von einem Staatsanwalt geleitet und vom Ermittlungsrichter lediglich kontrolliert werden, ist in Spanien der Untersuchungsrichter selbst für die Erforschung des Sachverhalts verantwortlich, so daß Garzón über die Aufnahme und Fortsetzung von Ermittlungsverfahren eigenständig entscheiden konnte. Diese fragwürdige Konstruktion eines wesentlichen Teils des spanischen Justizsystems bescherte ihm eine Machtfülle, die allein schon Grund genug sein sollte, Garzón nicht unbesehen als "Tyrannenjäger" in den Himmel zu heben oder wahlweise als "Märtyrer" bedingungslos zu verteidigen, wenn ihm erzreaktionäre Kräfte in seiner Heimat die Lektion erteilen wollen, daß er sich diesmal mit den Falschen angelegt hat.

Wie Reaktionen auf die einstweilige Amtsenthebung des 54jährigen Juristen dokumentieren, singen aufgebrachte Bürgerstimmen voller Empörung über das ihm angetane Unrecht aus voller Brust das Hohelied von vertrauenswürdiger Justiz, edler Demokratie und einem glaubwürdigen Staat, ohne daß ihnen dabei die Worte im Halse steckenblieben. Human Rights Watch erklärte, die Justiz sei in Spanien zum Opfer geworden. Amnesty International nannte die Entscheidung skandalös und erklärte, die Glaubwürdigkeit Spaniens als Verteidiger der Menschenrechte sei angeschlagen. Der Filmemacher Pedro Almodóvar sagte, er habe das Vertrauen in das spanische Rechtssystem verloren. Der Gewerkschaftsverband CC.OO. (Arbeiterkommissionen) bezeichnete die Suspendierung als einen Rückschlag für die Demokratie. Der Vorsitzende der Opfervereinigung ARMH, Emilio Silva, sprach gar von der Rückkehr der Inquisition, was zwar gewaltig klingt, jedoch in der Anwendung auf diesen speziellen Einzelfall nicht gerade eine präzise und mithin aussagekräftige Verwendung eines ohnehin durch inflationären Gebrauch verwässerten Begriffs ist.

Die emsigen Umtriebe des Untersuchungsrichters Garzón so lange zu feiern, wie er für unangreifbar gehaltene politische Gegner aufs Korn nimmt, und dabei geflissentlich zu übersehen, welcher Machtfülle eines prominenten Sektors der Justiz man damit huldigt, geht über bloße Blauäugigkeit hinaus. Aus diesem Aufspringen auf den fahrenden Zug international artikulierter Bestürzung spricht eine fundamentale Überantwortung an die proklamierten Segnungen von Rechtssystem und staatlicher Ordnung, die nicht zuletzt dann zum Tragen kommt, wenn ein Garzón Jagd auf verfemte Teile der Linken oder Autonomiebestrebungen macht.

Der spanische Parlamentspräsident José Bono beklagte, daß Richter Garzón aus ideologischen Gründen der Prozeß gemacht werde. Richteten sich seine Ermittlungen nicht gegen die politische Rechte, sondern gegen die Linke, wäre er kaum suspendiert worden. Wie zutreffend diese Einschätzung ist, unterstreicht der bekannte Umstand, daß sich Garzón auf nationaler Ebene seit Ende der 1990er Jahre insbesondere in Verfolgung der baskischen ETA und ihres Umfelds einen Namen gemacht hat. So ordnete er 1998 die Durchsuchung der Sitze der privaten baskischen Sprachschulvereinigung AEK sowie die Verhaftung ihres Schatzmeisters an und veranlaßte die Schließung baskischer Zeitungen und Radiosender, womit er die baskische Kultur im allgemeinen bekämpfte. Nach elf Jahren Verfahrensdauer wurden das Verbot der Zeitung Egin höchstrichterlich für rechtswidrig erklärt wie auch Mitglieder der Stiftung "Joxemi Zumalabe" vom Vorwurf freigesprochen, im Dienst der ETA zum zivilen Ungehorsam angestiftet zu haben.

Im Oktober 2002 untersagte er alle Aktivitäten der Partei Batasuna, weil diese zur ETA gehöre. Im folgenden Jahr wurde die Batasuna vom Obersten Gerichtshof verboten und dieses Verbot wurde später vom spanischen Verfassungsgericht sowie 2009 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt. Nach dem Ende des 2006 von der ETA ausgerufenen Waffenstillstandes erließ Garzón einen Haftbefehl gegen den letzten Verhandlungsführer, den politischen und militärischen Sprecher der ETA, Francisco Javier López Peña, der am 21. Mai 2008 zusammen mit anderen Kadern in Frankreich verhaftet wurde.

Internationale Bekanntheit erlangte Garzón, als er im Oktober 1998 einen internationalen Haftbefehl gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Augusto Pinochet erließ. Es handelte sich um den ersten Fall weltweit, in dem unter Berufung auf das Weltrechtsprinzip des Völkerstrafrechts gegen einen ausländischen früheren Machthaber ermittelt wurde. So sehr man dem alten Despoten die Pest an den Hals wünschen mochte, bestand doch kein Anlaß, in rückhaltlosen Jubel auszubrechen. Glaubte man denn allen Ernstes, daß der starke Arm, der einst Pinochet und andere Statthalter in aller Welt geschützt hatte, erlahmt sei? Vielmehr mußte man doch befürchten, daß ein für unberührbar gehaltener Machthaber wie Augusto Pinochet nun auf dem Altar einer qualifizierten Verfügungsgewalt geopfert wurde.

Wenn bis dahin vorgehaltene nationale Schranken der Strafverfolgung fielen, konnte das nur darauf hinauslaufen, im Dienst einer neuen umfassenden Ordnung ein weltpolizeiliches System der Zugriffsentwicklung zu etablieren. Gab man in der Person Pinochets einen längst unnütz gewordenen Vorläufer preis, bereitete man der Akzeptanz einer höherentwickelten Herrschaftssicherung den Boden. Mochten konservative Kreise diverser Länder die Demontage des Diktators fürchten, da dabei die schmutzige Wäsche eigener Verstrickung gewaschen zu werden drohte, so war dieser Schachzug für die Konstrukteure der neuen Weltordnung mehr als nur ein demonstrativer Akt der Vergangenheitsbewältigung. Der Weltöffentlichkeit wurde ein Straftäter in der Position eines Staatsmanns vorgeführt, dem alsbald andere "Schurken" folgen sollten, die den Vorwand für Angriffskriege im Namen der Menschenrechte lieferten.

Baltasar Garzón verfolgte nicht nur baskische Organisationen und Journalisten, sondern unterstützte auch das System der Kontaktsperre, das der Folter politischer Häftlinge Vorschub leistet. Er hörte im Zuge der Ermittlungen im "Fall Gürtel", der sich wegen Korruptionsverdachts gegen mehrere hochrangige Mitglieder der größten spanischen Oppositionspartei Partido Popular (PP) richtete, Gespräche zwischen Verdächtigen und ihren Anwälten ab. Umstritten waren ferner seine Ermittlungen gegen Mitarbeiter der Banco Santander, die er selbst im November 2006 wieder einstellte, da kein hinreichender Tatverdacht vorliege. Daraufhin wurde gegen ihn ein Verfahren wegen Rechtsbeugung eingeleitet, da er während seines Aufenthalts in New York von der Banco Santander gesponsort worden und daher befangen gewesen sei.

Während Garzón mit Verfahren gegen Regierungsangehörige der argentinischen Militärdiktatur Erfolge feiern konnte, ging er nicht wie angekündigt gegen den ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger wegen dessen Verstrickung in die Operation Condor in Lateinamerika in den 1970er Jahren vor. Folgenlos werden seine Verfahren gegen hochrangige Mitglieder der Bush-Administration wie Alberto R. Gonzales, John Yoo, Jay Bybee, Douglas Feith, William Haynes II und David Addington wegen juristischer Legitimierung von Folter bleiben. Wenngleich die erhobenen Vorwürfe zweifellos zutreffen, steht doch auf einem anderen Blatt, wer die Sachwalter und wer die Opfer einer Weltjustiz sind.

So unverzichtbar der von Baltasar Garzón angestoßene Rückblick auf die Franco-Diktatur und nicht zuletzt die Rolle der Sozialisten (PSOE) bei der Nichtbewältigung der Vergangenheit sein mag, sollte man dies keinesfalls in eine kritiklose Unterstützung des suspendierten spanischen Untersuchungsrichters ummünzen. Ihn vor der Verfolgung durch reaktionäre Kräfte in Spanien zu schützen, muß nicht mit der fatalen Verkennung einhergehen, er sei ein Vorkämpfer freiheitlicher Bestrebungen. Garzón bleibt in der Substanz seiner Bestrebungen ein prominenter Protagonist und Türöffner entgrenzter Justiz im nationalen wie weltweiten Maßstab, deren Zugriff man nur fürchten und bestreiten kann.

18. Mai 2010