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RAUB/1149: Agrarwirtschaft - Nahrungsmittelmangel ... (SB)



Die simple Aussage, laut der die Erde weit mehr Menschen ernähren könnte als zur Zeit, hat angesichts des Problems millionenfacher Mangelernährung und Tausender Hungertoter täglich vor allem den Effekt, daß sich daran nichts ändert. Mit der in dieser Aussage enthaltenen Perspektive, daß es auch ganz anders sein könnte, wenn die vorhandenen Ressourcen nur gerechter verteilt würden, wird das seit langem bestehende Problem der unzureichenden Voraussetzungen negiert, alle Menschen dem in den wohlhabenden Teilen der Welt üblichen Standard gemäß mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Zu wissen, daß die vorhandene Ackerfläche schon jetzt nicht ausreicht, um dieses Niveau an Welternährung sicherzustellen, und der Mangel an verfügbarem Wasser ebenso ein anwachsendes Problem darstellt, heißt, die Frage nach der Zukunft der Ernährung vor dem Hintergrund drohender Hungersnöte mit neuer Dringlichkeit zu stellen.

Rund 12 Prozent der Weltbevölkerung gelten laut der Welternährungsbehörde der Vereinten Nationen (FAO) als unterernährt. Mindestens 800 Millionen Menschen müssen immer wieder Phasen akuten Hungers erleiden und sind permanent Formen von Mangelernährung ausgesetzt, die sie gesundheitlich ruinieren und an denen sie sterben. Die grausame Alltäglichkeit systematischer Massenvernichtung ist mit karitativen Wundpflastern nicht mehr zu heilen, das zeigt eine Studie der WissenschaftlerInnen Sarah Rizvi, Chris Pagnutti, Evan Fraser, Chris T. Bauch und Madhur Anand von der School of Environmental Science an der University of Guelph im kanadischen Ontario. Die am 8. August auf dem Open Access-Portal PLOS ONE veröffentlichte Untersuchung [1] koppelt den durchschnittlichen Nahrungsmittelverbrauch pro Kopf in den jeweiligen Staaten an die dort verfügbare Ackerfläche und errechnet anhand der Ernährungsempfehlungen des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) 2010, wieviel an fruchtbarem Boden zur Versorgung der jeweiligen Bevölkerung es zusätzlich bedarf respektive wieviel frei würde, wenn die Menschen sich nach diesen Richtlinien ernährten.

Dabei werden ein kalorischer Bedarf und eine Zusammensetzung der täglichen Ernährung zugrundegelegt, wie in The Dietary Guidelines for Americans empfohlen. Die Aufnahme von durchschnittlich 3500 Kalorien, wie in reichen westlichen Staaten üblich, auf 2000 Kalorien am Tag zu reduzieren und dennoch vollwertig zu essen bedeutet, einen großen Anteil an pflanzlichen Nahrungsmitteln wie Gemüse, Hülsenfrüchten, Ölsaaten und Getreide bei einem geringen Anteil von Tierprodukten wie Fleisch, Milch und Eiern zu sich zu nehmen. Dies wird nicht nur von der US-Regierung empfohlen, sondern zur Eindämmung sogenannter Zivilisationskrankheiten, vor allem chronischer Erkrankungen des Stoffwechsels und Herz-Kreislauf-Systems, auch von der FAO wie vielen anderen Regierungen und ErnährungswissenschaftlerInnen gefordert.

Die ForscherInnen gelangen zu dem Ergebnis, daß selbst unter einer in diesem Sinne vorteilhaften Diät schon jetzt eine Fläche agrarisch bewirtschaftbaren Bodens von der Größe Kanadas fehlt, um allen Menschen eine solche Ernährungsweise verfügbar zu machen. Auf 38 Prozent der globalen Landfläche wird Landwirtschaft betrieben, während die übrigen 62 Prozent aus verschiedenen Gründen - Klima, Unzugänglichkeit, Desertifikation, Versiegelung, Bewaldung - für diesen Zweck entfallen. Ein Drittel dieser Fläche ist bereits vom Menschen durch urbane Bebauung okkupiert, ein weiteres Drittel entfällt auf Waldgebiete, die bereits mit fatalen Konsequenzen immer kleiner werden, weil sie für landwirtschaftliche, aber auch die Förderung mineralischer und fossiler Rohstoffe gerodet werden.

Die kanadischen WissenschaftlerInnen beschreiben praktisch den Status quo, der sich allerdings perspektivisch verschärft, da laut FAO von einem wachsenden Nahrungsbedarf bis 2050 um 70 Prozent auszugehen ist. Bislang haben sich die Verheißungen der Agromultis, mit gentechnischen Mitteln sehr viel ertragreichere Sorten zu züchten, in keiner Weise erfüllt. Statt dessen werden mit der durch die industrielle Landwirtschaft stark reduzierten Sortenvielfalt unabschätzbare Risiken etwa des Entstehens neuartiger Pflanzenkrankheiten und anwachsender Immunität gegen bereits vorhandene Schadorganismen eingegangen. Zudem werden die mit Pflanzenschutz und Düngemitteleinsatz wachsenden Erträge pro Hektar mit einem zum Ernteertrag unverhältnismäßig ansteigenden Input an Pestiziden und Düngemitteln erkauft, was weitere Risiken der Ressourcenerschöpfung etwa bei Phosphor, der Vergiftung des Grundwassers, der gesundheitlichen Belastung der Menschen und der Beschleunigung des Klimawandels in sich birgt. Der massive Einsatz fossiler Energien in der Landwirtschaft bei der Bewirtschaftung der Felder, bei Transport, Weiterverarbeitung und Kühlung der Nahrungsmittel wie der Herstellung der Düngemittel als auch der große Verbrauch trinkbaren Wassers bei Anbau und Verarbeitung vervollständigen das Bild eines Problems, das für hungernde Menschen schon jetzt eine Katastrophe darstellt.

Wie die AutorInnen der Studie herausgefunden haben, bildet sich das größte Gefälle beim Verhältnis des Verbrauchs von Nahrungsmitteln zur dafür in Anspruch genommenen Fläche heute zwischen den USA, Brasilien, Australien auf der Seite derjenigen, die durch die Befolgung der USDA-Richtlinien an Fläche für Nahrungsmittelanbau dazugewinnen könnten, und den bevölkerungsreichen Staaten Asiens als auch Afrikas auf der Seite derjenigen, die größerer Anbauflächen bedürften, wenn sie den Kriterien dieser Ernährungsweise folgten. Selbst die EU fällt unter die letztere Gruppe, allerdings scheint das Bild hier verzerrt zu sein durch das große Ausmaß an Flächenimporten für das Tierfutter, das in den Ställen der EU zur Fleisch- und Milchproduktion eingesetzt wird.

Die intensive Tierproduktion wird auch im Fall der ersten Gruppe dafür verantwortlich gemacht, daß eine Einschränkung der Herstellung von Fleisch- und Molkereiprodukten viel Fläche für den Nahrungsmittelanbau zur menschlichen Nutzung freisetzte. Unerwähnt bleibt allerdings das große Thema Bioenergie, wird doch allein ein Viertel der Maisernte in den USA zur Produktion von Agrosprit verwendet. In der EU sind die Verhältnisse nicht ganz so drastisch, aber auch hier wird die Entscheidung für den Tank und gegen den Teller politisch unterstützt. Wie die kanadischen WissenschaftlerInnen einräumen, gibt es noch erheblichen Forschungsbedarf als auch die Notwendigkeit zur Präzisierung der verfügbaren Länderdaten.

Dennoch ist ihre Erkenntnis, daß selbst für eine ernährungsphysiologisch förderliche, kalorienreduzierte Lebensweise nicht genügend Ackerfläche weltweit vorhanden ist, von eminenter Bedeutung für die Bekämpfung des Hungers. Sie könnte dazu beitragen, denjenigen ExpertInnen Gehör zu schenken, die Maßnahmen zur Steigerung des Ertrages an Nahrungsmitteln wie zur langfristigen Verbesserung der Ernährungssicherheit und -souveränität vorschlagen. Erhalt der Bodenfruchtbarkeit und der Sortenvielfalt, Schonung der Trinkwasserressourcen, Sparsamkeit beim Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden und die Verlangsamung des Klimawandels sollen etwa durch die Stärkung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die Verteidigung indigener Lebensformen, die nachhaltigere Bewirtschaftung der Böden durch bioorganischen Landbau, die Einstellung der Exportsubventionierung und des Handels mit virtuellem Wasser, die Etablierung regionaler Anbau- und Verbrauchskreisläufe und die Beendigung der Massentierhaltung gefördert werden.

All das wird über das soziale Beharrungsvermögen, mit dem tradierte Verbrauchsformen durchgesetzt werden, und die politische Lobbyarbeit nationaler Agrarindustrien hinaus durch die anwachsende Konzentration und vertikale Integration der großen Akteure im global aufgestellten Agrobusiness wie die zunehmende Bedeutung der Erzeugung agrarischer Rohstoffe als Investitionsziel für das stets nach Anlage suchende Kapital erheblich erschwert. Die bestehende agrarische Produktionsweise, die insbesondere mit der Digitalisierung der Landwirtschaft vor entscheidenden Veränderungen steht, in eine allen Lebewesen zugewandte und sozialökologisch förderliche Wirtschaftsweise umzuwandeln ist in allererste Linie eine Machtfrage. Die Ernährung ist wie alle Fragen der sozialen Reproduktion von eminent politischer Bedeutung, und das um so mehr, als tagtäglich das Leben von Millionen Menschen auf dem Spiel steht. Für Information und Inspiration stehen soziale Bewegungen wie diejenigen für Ernährungssouveränität, für Solidarische Landwirtschaft, für Klimagerechtigkeit und Tierbefreiung bereit.


Fußnote:

[1] Global land use implications of dietary trends
https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0200781

31. August 2018


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