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RAUB/1136: Sterbehilfe - Flucht oder Vertreibung ... (SB)



Einst mit dem Argument beworben, unerträgliche Schmerzen bei weitgehend immobilen PatientInnen, die nicht einmal aus eigenen Stücken Suizid begehen könnten, zu beenden, ist aktive Sterbehilfe längst zum ärztlichen Mittel ultimativer Wahl geworden. So wurden bereits 60 Prozent der ÄrztInnen in den Niederlanden mindestens einmal von PatientInnen mit dem Wunsch konfrontiert, beim vorzeitigen Sterben zu assistieren. Von den Benelux-Staaten bis nach Nordamerika dokumentieren wissenschaftliche Auswertungen vollzogener Akte der Sterbehilfe, daß der Verlust persönlicher Autonomie oder die Angst, anderen zur Last zu fallen, weit häufiger als entscheidendes Argument für den Entschluß dienen, sich von MedizinerInnen töten zu lassen, als der Zustand, unerträgliche Schmerzen aushalten zu müssen. Letzteres ist beim heutige Stand der Palliativmedizin weitgehend beherrschbar, und der Weg in den Freitod steht immer offen. Niemand muß dafür um Erlaubnis fragen, zudem wurde die Hilfe beim Suizid durch Vertraute oder Verwandte in der Bundesrepublik entkriminalisiert.

Wer sterben will, weil die Toilette ohne fremde Hilfe unerreichbar geworden ist oder die Notdurft im Bett vollzogen werden muß, weil die tägliche Ernährung nicht mehr eigenständig geleistet werden kann und viele andere Verrichtungen der Hilfe von FreundInnen oder PflegerInnen bedürfen, erlebt nichts anderes als das, was für viele körperlich wie geistig behinderte Menschen selbstverständlicher Alltag ist. Daß ein solches Leben nicht wirklich lohnenswert sei und der Tod auch als Gnade betrachtet werden könne, geht unverhohlen aus dem Subtext um die finale Lebensphase kreisender gesellschaftlicher Diskurse hervor. Erst dann in diese Lage geratene oder seit jeher behinderte Menschen werden mehr oder weniger subtil sozial stigmatisiert, das geschieht auch in einer Praxis aktiver Sterbehilfe, die auf den Primat individueller Autonomie orientiert ist.

"Mein Tod gehört mir", lautete das Credo des seit Jahrzehnten im Rollstuhl sitzenden ehemaligen MDR-Intendanten Udo Reiter. Der für aktive Sterbehilfe werbende Journalist wollte nicht als versorgungsbedürftiger Pflegefall vor sich hindämmern und nahm sich im Oktober 2014 das Leben. Die Kritik an einer Vorstellung von persönlicher Unabhängigkeit, in deren Genuß zu gelangen weit mehr eine soziale und klassengesellschaftliche Frage ist, als daß sie mit der, wie Reiter zeigte, ohnehin nicht eingeschränkten Möglichkeit des Freitodes steht und fällt, ging in dem Beifall, den er als Streiter für vermeintlich selbstbestimmtes Sterben erhielt, fast ungehört unter. Was eine solche Haltung für die Pflege leistenden Menschen bedeutet, liegt auf der Hand. Sich nicht helfen lassen zu wollen, weil man es für unwürdig oder peinlich hält, aber von einem Wohlstand in den Metropolen zu profitieren, der auf dem Rücken zahlloser Menschen und Lebewesen erwirtschaftet wurde, verrät den die Vorteile eigener Besitzstände sorgsam schützenden Tunnelblick.

Vielen Menschen - und Behinderten allzumal - gehört nicht einmal das Leben, weil sie es als Ware Arbeitskraft verkaufen müssen oder weil sie als EmpfängerInnen von Sozialtransfers erst recht Störfaktoren der neoliberalen Arbeitsgesellschaft sind. Das gilt auch für Menschen mit geistiger Behinderung und psychiatrischen Diagnosen, die, wenn sie nicht ohnehin zu jenen 60.000 PatientInnen gehören, die in der Bundesrepublik in geschlossenen Einrichtungen gefangengehalten werden, jeden Tag Ausgrenzung und Diffamierung erleben. Auch diese können sich in den Niederlanden, wo etwa jeder 25. Todesfall mit aktiver Sterbehilfe herbeigeführt wird, von ÄrztInnen vom Leben in den Tod befördern lassen. Eine aktuelle Studie [1] beleuchtet die Problematik, sich als Mediziner, der um Sterbehilfe ersucht wird, ein den gesetzlichen Regeln gemäßes Bild vom Zustand eines Menschen zu machen, der aufgrund psychischer Probleme oder eines nicht mehr vorhandenen Lebenswillens durch die Hand des Arztes getötet werden will. So förderte die Studie die Tendenz zu Tage, bei geistig Behinderten die Schwelle, nach der ein um Sterbehilfe bittender Mensch als genügend kompetent eingestuft wird, um das ganze Ausmaß eines solchen Schrittes zu ermessen, niedriger anzusetzen als im Fall körperlich erkrankter Menschen. Diskutiert wird eine aus dem eigenen, in letzter Konsequenz behindertenfeindlichen Wertesystem resultierende Eigenbeteiligung der ÄrztInnen am Zustandekommen der Entscheidung.

Während die Fälle, in denen psychische Probleme zum Sterbewunsch und seiner Erfüllung führen, in den Niederlanden jedes Jahr weiter zunehmen, und auch an Demenz erkrankte PatientInnen in wachsender Zahl per Vorausverfügung auf diese Weise sterben, werden die Kosten der letzten Lebensphase immer offener in Relation zu der privatwirtschaftlich organisierten Ressourcenverfügbarkeit gestellt [2]. Hier nicht von Mangel zu sprechen gebietet die ungeklärte Frage, inwiefern ein alle Menschen gleichermaßen zugute kommendes Gesundheitswesen mit weit weniger Ressourcen- und Arbeitsaufwand geschaffen werden könnte, wenn es nicht den herrschenden Verwertungsbedingungen unterworfen wäre.

Der Frage, ob sich das Leben noch "lohnt", liegt denn auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung zugrunde, in der sich die Wertbestimmungen der kapitalistischen Marktgesellschaft adäquat abbilden. Wenn alles und jedes dem Fetisch der Warenform verfällt, dann kann eine staatlich administrierte und ärztlich vollzogene Praxis der Sterbehilfe schnell zu einem System der Rationalisierung mutieren, in dem Kostenfaktoren etwa mit dem Argument selbstverschuldeter Miseren und einer Bezichtigungslogik, die von allen krankmachenden Umständen gesellschaftlicher Produktion absieht, auch in Gestalt vorzeitigen Ablebens beseitigt werden.

Widerstand gegen die fundamentale Verkehrung des ärztlichen Ethos, nicht nur das Leben der PatientInnen zu schützen und zu verlängern, sondern ihnen nach Lage einer angeblich nicht mehr vorhandenen Lebensqualität, die möglicherweise von Menschen definiert wird, die sich gar nicht in die Situation der Betroffenen hineinversetzen können oder wollen, mit der finalen Medikation des Todes beizustehen, ist mithin integraler Bestandteil notwendiger Gesellschaftskritik. Die demgegenüber in Anspruch genommene Liberalität, Freitod nicht nur selber begehen zu können, sondern sich zu diesem Zweck mit Erlaubnis des Staates in die Hände des Arztes zu begeben, könnte das Tor zu einem sozial selektiven Ableben öffnen, zu dem sich Menschen schon jetzt genötigt fühlen, wenn sie sich gegenüber der sie versorgenden Umwelt in ein Schuldverhältnis manövriert haben. Die Freiheit des Lohnempfängers, fremdbestimmte Arbeit verrichten zu dürfen, um sich sein Dasein als Konsument all jener Waren zu verdienen, die das Rad seiner Unterwerfung unter das Kapitalverhältnis in Gang halten, könnte auch darin bestehen, dieses Schuldverhältnis aufzukündigen und für ein anderes, tatsächlich autonomes Leben zu kämpfen.


Fußnoten:

[1] Euthanasia and assisted suicide for people with an intellectual disability and/or autism spectrum disorder: an examination of nine relevant euthanasia cases in the Netherlands (2012-2016)
https://bmcmedethics.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12910-018-0257-6

[2] RAUB/1135: Alter - volle Gesundheitsversorgung obsolet ... (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/raub1135.html

22. Mai 2018


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