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RAUB/1079: "Fairneß" statt soziale Gleichheit (SB)



Nirgendwo in der EU sind die Einkommensunterschiede so gering wie in der Tschechischen Republik, dementsprechend niedrig ist auch das Armutsrisiko. Dennoch gibt es Gewerkschafter, die dies kritisieren und der Ansicht sind, man müsse die Arbeitsbedingungen neu bewerten und individuelle Unterschiede bei der Entlohnung stärker berücksichtigen. Im Deutschlandfunk klagt Dana Machatova vom Gewerkschaftsbund über die "unsäglich niedrigen" Gehälter von Spitzenwissenschaftlern, "die die höchstmögliche Bildung haben, sich ihr ganzes Leben lang weiterbilden und im Ausland publizieren" [1]. Sie attestiert zwar eine hohe Gleichheit in der tschechischen Lohnabhängigenklasse, aber für "fair" halte sie dieses System dennoch nicht.

Wenn eine nach marktwirtschaftlichen Bedingungen funktionierende Gesellschaft in der Lage ist, die allgemeinen Lebensbedingungen auf wenn auch niedrigem Niveau sozialverträglich zu gestalten, sollte dies in einer EU der anwachsenden Massenverarmung eigentlich als Errungenschaft gewürdigt werden. Menschen gänzlich von der Möglichkeit fernzuhalten, mit Lohnarbeit zumindest ihre Grundbedürfnisse auf angemessene Weise zu sichern, ist demgegenüber sicherlich das größere Übel. Es fällt auf, daß der moralische Wert der Fairneß in solchen Verhältnissen gar nicht erst zur Debatte steht. Wer durch den Rost fällt, verfügt über keine Verhandlungsmasse mehr, die in "faire" Tauschverhältnisse einzubringen wäre. Der ehemalige US-Präsident Clinton wußte schon vor 20 Jahren von einer "Outer Class", die die "Under Class" ersetzt habe, zu sprechen. Nach aller Voraussicht unumkehrbar ausgegrenzt zu sein, entbehrt jeder noch verbliebenen Aufstiegschance, die allen Menschen zuzugestehen stets das soziale Credo des liberalen Kapitalismus war.

Insofern steht der Begriff der Fairneß für ein Verteilungsmodell, in dem die Parameter der Leistungsbereitschaft und beruflichen Kompetenz an das Marktsubjekt angelegt werden. Wer den verkaufsfähigen Wert seiner Arbeitskraft steigert, soll auch in den Genuß dementsprechender Vorteile kommen. Über Geld in Beziehung zueinander gesetzt, werden die Menschen als tauschbare Elemente des Kapitalverhältnisses zur Antithese dessen, was ihre Individualisierung an Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit zu bieten verheißt.

Soziale Gleichheit ist als Voraussetzung für eine Zukunft, die nicht nur den individuellen Konsum, sondern den Fortbestand von Mensch und Natur im Blick hat, weit unverzichtbarer als der Anspruch auf eine Gerechtigkeit, derzufolge sich das persönliche Investment in Bildung gefälligst auszuzahlen hat. Sich fair zu verhalten ist eine Sozialstrategie, die nicht von ungefähr mit dem Sport assoziiert wird. Sie geht von einem prinzipiellen Konkurrenzverhältnis zwischen Menschen aus, anstatt die Frage aufzuwerfen, ob es nicht viel sinnvoller wäre, die in ökonomischen Sachzwängen fixierten Voraussetzungen für eine letztlich sozialdarwinistische Lebensauffassung zu überwinden. Insofern wird auch in linken und grünen Kreisen überall dort Fairneß eingefordert, wo man nicht bereit ist, die grundlegenden Verwertungsbedingungen kapitalistischer Vergesellschaftung in Frage zu stellen, sprich privatwirtschaftliches Eigentum als solches zu überwinden.

Eine Gesellschaft, die das Ziel verfolgt, ihre Bevölkerung nicht dem Primat des Wettbewerbs zu unterwerfen, bringt denn auch keine Vertreter jener Spezies hervor, die die Vorstandsetagen und das mittlere Management global operierender Konzerne bevölkern. So befinden sich unter den 600 Aufsichtsräten und Vorstandsmitgliedern der 30 größten Unternehmen der Bundesrepublik weniger als ein Dutzend Personen, die in der DDR aufwuchsen. Die Spitzenjobs in diesem Bereich entfallen häufiger auf Bürger der USA, Indiens oder Chinas als auf Ostdeutsche, wie im Wall Street Journal [2] anläßlich des 25. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer attestiert. Ein wesentlicher Grund dafür besteht laut Mike Winkel, gelernter DDR-Bürger und Personalvorstand beim Energiekonzern EON, darin, daß das Kollektiv im abgewickelten Staatssozialismus stets an erster Stelle gestanden habe.

Doch was sind das für Individuen, die die neoliberale Marktwirtschaft mit den Mitteln massiven Konkurrenzdrucks und der Forderung nach ständiger Selbstoptimierung hervorbringt? Zumindest sind sie nicht dafür bekannt, die Bewältigung des Problems der Verarmung in der EU und der um so größeren sozialen Not in den Ländern des Südens über werbeträchtiges Social Sponsoring hinaus zu ihrem Anliegen zu machen. Den Gewinn ihrer Unternehmen zu mehren und ihre geldwerte Produktivität zu jedem Preis für Mensch und Natur zu erhöhen, ist praktisch das Grundmerkmal eines Kapitalismus, dessen Funktionsweise sie auf denkbar effizienteste Weise entwickeln, denn sonst stände ein anderer an ihrem Platz.

Das Vermächtnis des sogenannten Staatssozialismus bleibt bei aller Kritikwürdigkeit in Hinsicht auf Qualitäten wie allgemeine Verfügbarkeit essentieller Sozialleistungen und die Nichtbeteiligung an imperialistischen Kriegen unerreicht. Nicht einmal dies würdigen zu können, sondern Hinterlassenschaften wie eine sozialökonomisch weniger ungleiche Gesellschaft als zu überwindendes Übel darzustellen, zeichnet denn auch die massenmediale Kommunikation im Kapitalismus aus. Darin geht es stets fair zu, so sich der durch bürgerliche Vertragsverhältnisse zu seiner Misere befreite Mensch dem Primat einer Eigentumsordnung unterwirft, die durch die Vertikale der Staats- und Kapitalmacht so lange in Form gehalten wird, bis ihr die Luft, das Wasser oder die Nahrung ausgeht.


Fußnoten:

[1] http://www.deutschlandfunk.de/tschechiens-gehaltsgefuege-gleicher-lohn-fuer-alle.795.de.html?dram:article_id=316438

[2] Business Leaders From East Are Few, The Wall Street Journal, 7. - 9. November 2014

8. April 2015


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