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RAUB/1078: Trostpflaster Mindestlohn (SB)




Einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, ohne die gesellschaftliche Eigentumsfrage zu stellen, kann nur als Trostpflaster für all diejenigen verstanden werden, denen zum Lebenserhalt keine andere Möglichkeit bleibt, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Daß nun vier Millionen Lohnabhängige in den Genuß eines höheren Gehaltes kommen sollen, ist selbstverständlich ein Zugewinn. Doch unter welchen Bedingungen greift der Gesetzgeber in das Verhältnis von Kapital und Arbeit ein? Er kann sich dies nur erlauben, weil es den Unternehmen nicht wirklich wehtut, wenn sie einigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mehr als bisher bezahlen müssen. Schließlich obliegt es ihnen weiterhin, die ab Januar 2015 geltende Lohnuntergrenze als Impuls zur betriebswirtschaftlichen Rationalisierung zu nutzen. Entlassungen, die Verdichtung der Leistungsanforderung, die Verwandlung kostenintensiver Unternehmensbereiche in eigenständige Profit-Center, die Auslagerung an Subunternehmen oder ins Ausland wie auch der Einsatz von Leih- und Werksvertragsarbeit sind einige der Möglichkeiten, mit Hilfe derer ein durch den Mindestlohn steigendes Kostenniveau kompensiert werden kann.

So kann sich ein gesetzlich verbindlicher Mindestlohn unter den herrschenden privatwirtschaftlichen Bedingungen geradezu als Innovationsmotor entpuppen, gibt es doch für die betriebliche Effizienzsteigerung kein wirksameres Mittel als das der skrupulösen Überprüfung anfallender Kosten und einer daraus resultierenden Umstrukturierung der Produktionsabläufe. Hinzu kommt die allgemein befriedende Wirkung der Maßnahme. Sozialdemokratinnen und -demokraten werden nicht müde zu betonen, damit einen Sieg für ihre Klientel davongetragen zu haben. Auch in den Reihen der Gewerkschaften wird der Schritt als Erfolg gefeiert, in einigen Fällen sogar trotz der Ausnahmeregelungen, gegen die ein Teil der Gewerkschaftsbewegung noch protestiert. Das ist im Sinne ihrer sozialpartnerschaftlichen Agenda verständlich, ändert jedoch nichts daran, daß die Einbindung der deutschen Arbeiterschaft in die Interessen des nationalen Standortes auf dem Rücken der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen in jenen Ländern erfolgt, in dem das Schuldendiktat des Kreditsystems, als das der Europäische Rat, die EU-Kommission, IWF und EZB fungieren, lebensbedrohliche Folgen für Erwerbsabhängige wie Arbeitslose zeitigt.

Nur eine Besserstellung aller Menschen im Sinne der Freistellung der Möglichkeit, den selbstbestimmten Teil ihres Lebens zu Lasten entfremdeter Arbeit auszuweiten, könnte dazu führen, ihre Kampfkraft zu stärken und eine Klasse, die ein gemeinsames Interesse vertritt, zu konstitutieren. Gerade das soll nicht geschehen, wie etwa die sechsmonatige Ausnahmeregelung für Langzeiterwerbslose zeigt. Sie wären ansonsten nicht zu vermitteln, lautet das Argument, das ihre Herabsetzung zu überflüssig gemachten Kostenfaktoren begründet. Um die Ware Arbeitskraft an einem Markt zu handeln, auf dem die Aneignung unbezahlter Arbeit die Höhe des Lohnniveaus bestimmt, wirkt der drohende Absturz in die Entrechtung und Abhängigkeit des Hartz IV-Regimes Wunder. Es ist kein Zufall, daß die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von der Verschärfung der Sanktionen für Leistungsempfänger, der Ausweitung der nötigenden Wirkung der Bedarfsgemeinschaft oder der in Hamburg vorgedachten Einführung von Null-Euro-Jobs flankiert wird.

Die Eigentumsfrage nicht nur hinsichtlich der Produktionsmittel, sondern auch der kaum durch Lohnarbeit bewirtschafteten Einkommensfaktoren des Bodens, der Immobilien, der Ressourcen und Energieträger, des Rechte- und Patentehandels zu stellen setzte dort an, wo die ohnmächtige Situation des Lohnabhängigen im Kern verankert ist. Das in den Schuldenkaskaden des Finanzmarktes fiktiv gewordene Kapital muß permanent Arbeitszeit und Rohstoffe einsaugen, um überhaupt noch jenen Wert darstellen zu können, den es durch die mehrfache Aufblähung der Geldmenge gegenüber damit erwerbbaren Gütern und Eigentumstiteln eingebüßt hat. Die Entwertung der Sparguthaben durch niedrigste Verzinsung und der durch das nach anderen Anlagemöglichkeiten suchende Kapital angeheizte Boom an den Börsen belegen, daß die Krise des Kapitals alles andere als ausgestanden ist. Immer mehr Güter zu Lasten von Mensch und Natur zu schaffen, während die materielle Not immer größer wird, setzt vor allem sozialen Sprengstoff in die Welt.

Die aus der Schuldenproblematik gezogene Konsequenz der Austeritätspolitik zwingt die Lohnarbeit unter die Kuratel eines Entwertungsdiktates, das die ungenügende Akkumulation von Kapital durch Mehrwertabschöpfung mit der Verschärfung der Verfügungsgewalt über Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kompensieren versucht. Wenn ein Großteil der Menschen trotz positiven Wachstums und steigender Produktivität immer weniger Lebensqualität erwirtschaftet, wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich auf nie gekannte Weise öffnet, obwohl der kapitalistischen Globalisierung attestiert wird, weltweite Einkommenszuwächse geschaffen zu haben, dann bleibt die Strategie des Teilens und Herrschens der verläßlichste Faktor der Herrschaftsicherung.

Die relative Verbesserung individueller Einkommenssituationen läßt die gesellschaftlichen Eigentumsverhältnisse unangetastet. Sie werden ohnehin kaum in Frage gestellt, und das Trostpflaster Mindestlohn sorgt dafür, daß es so bleibt. Nicht darüber nachzudenken, geschweige denn dagegen zu kämpfen, daß die herrschenden Gewaltverhältnisse auf konkreten materiellen Bedingungen fußen, ist als Ertrag sozialdemokratischer Politik nicht geringzuschätzen. Je schwerer es den davon Betroffenen fällt, die sie in erster Linie bedingenden gesellschaftlichen Faktoren überhaupt in den Blick zu nehmen und auf einen Begriff zu bringen, desto mehr ist deren Bestand gewährleistet. Da der Streit um den gesetzlichen Mindestlohn auf dessen Höhe und die durchgesetzten Ausnahmeregelungen beschränkt ist, bleiben Forderungen nach einer drastischen Reduzierung der Arbeitszeit oder einem größeren Einfluß der Lohnabhängigen auf die Bedingungen und Qualität der Arbeit, die sie verrichten müssen, auf der Strecke einer nicht zuletzt von den Sachwaltern dieser Sozialreform induzierten Bescheidenheit.


Fußnoten:

siehe dazu auch
KULTUR/0971: Mindestlohn gefährdet Pressefreiheit? Über die Deutungsmacht der Verlagskonzerne (SB)
http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/sele0971.html

3. Juni 2014