Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → KOMMENTAR

RAUB/1032: Zum höheren Nutzen ... die schleichende Aufhebung des Tötungsverbotes (SB)




Sage niemand, daß die Abgeordneten des Deutschen Bundestages nicht um den relativen und zweckrationalen Charakter der Hirntodkonzeption wüßten. Bei der ersten Lesung zur Einführung der Entscheidungslösung in das Transplantationsgesetz (TPG) am 22. März wurde in zwei Reden die Ansicht vertreten, daß die Diagnose des Hirntodes nicht mit dem Tod des Menschen gleichzusetzen sei. Die Konsequenz, daß die Entnahme lebenswichtiger Organe nicht erfolgen könne, weil dadurch das Tötungsverbot ebenso zur Disposition gestellt wird wie die ethische Verpflichtung des Arztes, nichts zu unternehmen, was dem Patienten schaden könnte, wäre zumindest eine Debatte wert gewesen. Dazu kam es nicht. Die Abgeordneten scheinen mit der in diesen beiden Redebeiträgen vertretenen Ansicht, daß die Organentnahme bei sterbenden, mithin lebenden Menschen prinzipiell möglich sein sollte, keinerlei Probleme zu haben.

Birgitt Bender von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist der Ansicht, daß der sogenannte Hirntote "am Beginn eines Sterbeprozesses" steht, welcher "je nachdem, ob jemand Organspender ist oder eben nicht" [1], anders verlaufe. Sie ist sich darüber im Klaren, daß eine Patientenverfügung, die eine intensivmedizinische Behandlung am Lebensende ausschließt, mit der Organspende nicht vereinbar ist, und gesteht zu, daß man nicht wisse, welche Bedeutung ein solcher Eingriff in den Sterbeprozeß für die Betroffenen habe.

Die daraus zu ziehende Schlußfolgerung, daß diese Fragen nicht tabuisiert werden dürften, um den Menschen eine angemessene Entscheidungsgrundlage zur Frage der Spendebereitschaft zu bieten, führte, wenn sie in die Tat umgesetzt würde, absehbar dazu, daß weit weniger Organe für die Transplantation lebenswichtiger Organe zur Verfügung stünden als bisher. Eine Aufklärungskampagne, die die validen Zweifel an der Hirntodkonzeption allgemein bekannt machte, wirkte dem Ziel der Entscheidungslösung, die Bereitschaft zur Organspende zu erhöhen, diametral entgegen.

Auch Norbert Geis von der Unionsfraktion ist der Ansicht, daß der Hirntod nicht der Tod des Menschen, wohl aber der Beginn eines irreversiblen Sterbeprozesses ist. Er bestätigt, daß der begründete Zweifel an dieser Todesdefinition dem Vertrauen in die Transplantationsmedizin schadet, was der von ihm ebenfalls verlangten umfassenden Aufklärung potentieller Organspender enge Grenzen setzt. Selbst wenn dieser Abgeordnete der Ansicht ist, es stelle keinen sonstwie gearteten Widerspruch dar, Sterbenden Organe zu entnehmen, dürfte dies auf viele Menschen, die sich in Aussicht auf ein ungewisses Schicksal als Organspender deklarieren sollen, eher abschreckend wirken:

"Heißt das aber, dass nach dem Zusammenbruch der Funktion des Hirnes kein Organ entnommen werden darf, weil das Leben noch nicht gewichen ist? Nein! Der Hirntod ist der irreversible Beginn des Sterbens. Er ist der 'point of no return'. Wenn der Spender, und nur er, sein klares Ja zur Transplantation erklärt hat, dürfen in dieser Sterbephase die Organe entnommen werden. Es ist daher unbestritten, dass nach Eintritt des Hirntodes die Transplantation vorgenommen werden darf, auch wenn der Hirntod nicht mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird.
Die Behauptung, dass dann durch die Entnahme eines Organs der Betreffende getötet wird, ist falsch. Nicht durch die Entnahme der Organe wird der Mensch getötet, sondern das Abstellen der Maschinen bewirkt den Tod. Dies ist aber keine Tötung, sondern die Beendigung des Sterbevorganges." [1]

Was der engagierte Katholik Geis, dem nachgesagt wird, als Präsident des Vereins "Rhein-Donau-Stiftung" dem Opus Dei nahezustehen, nachgerade ex cathedra dekretiert, zeugt von einem Verlust nicht nur an christlicher Moral, sondern aller Vorsicht im Umgang mit dem hohen Gut des individuellen Lebensrechts. Abgesehen davon, daß die Entnahme von Organen bei lebenden Menschen gerade auch von Befürwortern der Transplantationsmedizin bestritten wird, belegt die Behauptung, das Ende intensivmedizinischer Maßnahmen und nicht die Entnahme lebenswichtiger Organe sei für den Tod des Spenders verantwortlich, eine interessegeleitete Sicht, die gar nicht anders als mit einer voluntaristischen Wertung legitimiert werden kann.

So werden lebenserhaltende Maßnahmen, die nicht der zweifelsfreien diagnostischen Abklärung eines irreversiblen Sterbevorgangs dienen, aus dem einen Grund eingeleitet, die Organe des Patienten in lebendfrischem Zustand zu halten. Die Trennlinie zwischen seinem Eigeninteresse und dem Interesse Dritter ist mit der prospektiven Organentnahme überschritten, so daß alles, was von dort an erfolgt, ausschließlich durch die zuvor getroffene Einwilligung in die Organspende bestimmt ist. Da die Entnahme des Herzen oder anderer lebenswichtiger Organe tödlich ausgeht, während das Abstellen der Geräte lediglich einen Umstand betrifft, der diese Art des Sterbeprozesses möglich macht, stellt Geis die Kausalität der zum Tode führenden Interventionen schlicht auf den Kopf, um zu vernebeln, daß der Griff nach dem Organ im Mittelpunkt dieser Form des verlängerten Sterbeprozesses steht.

Laut einem Bericht der taz [2] hat der Medizinische Vorstand der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO), Günter Kirste, im Rahmen der Novellierung des TPG die gesundheitspolitischen Sprecher der fünf Bundestagsfraktionen aufgefordert, die in dem Gesetzentwurf verankerte Vorkehrung, daß die Ärzte erst nach Feststellung des Hirntodes über die mögliche Spendebereitschaft des Patienten informiert werden dürfen, zu revidieren. Kirste plädierte für die Möglichkeit, die künstlichen Beatmung schon vor der offiziellen Feststellung des Hirntodes einleiten zu können, auch wenn sich die Betroffenen in einer Patientenverfügung gegen lebenserhaltende Maßnahmen ausgesprochen hätten.

Der DSO-Funktionär versucht damit nicht nur, die Gültigkeit der Patientenverfügung zu unterminieren, sondern spricht der Durchführung fremdnütziger Maßnahmen zu Lebzeiten das Wort. Dies ist im europäischen Vergleich kein so rabiater Tabubruch, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. So will die British Medical Association (BMA) die Praxis der "elective ventilation" legalisieren. Dabei geht es darum, Patienten allein zum Zwecke der Organentnahme künstlich zu beatmen und ihren Kreislauf medikamentös zu stabilisieren, um genügend Zeit zu gewinnen, mit den Angehörigen über eine Organentnahme zu beraten, ohne daß die Spenderorgane geschädigt würden. Mit diesem Vorstoß wird die Gültigkeit des ethischen Primats, daß keine ärztliche Handlung dem Patienten schaden darf, auf eine Weise attackiert, mit der die körperliche Integrität des einzelnen Menschen ins Verhältnis zu dem gesellschaftlich bestimmten Interesse, ihn als Ressource für das Leben anderer zu nutzen, gesetzt wird. Hat das utilitaristische Prinzip des übergeordneten Nutzens einmal seine Einhegung durch die dem Individuum zugedachten Grund- und Menschenrechte überwunden, dann können alle möglichen Formen zwangsweiser Verpflichtung mit der Behauptung durchgesetzt werden, sogenannte Kostenbringer wie Behinderte oder Langzeiterwerbslose hätten eine Schuld an der Gesellschaft abzutragen.

Insofern ist die Forderung, auch nichttoten Menschen Organe entnehmen zu können, nicht nur für das Leben in seinem Endstadium bedeutsam. Mit ihr soll der Schutz der Menschenwürde in einem entscheidenden Punkt aufgehoben werden. Fallen zentrale Werte des bürgerlichen Rechts der ausschließlich nutzenorientierten kapitalistischen Vergesellschaftung zum Opfer, dann bleibt nicht einmal mehr der nominelle Anspruch, um auf rechtstaatliche Weise gegen herrschenden Gewaltverhältnisse vorzugehen. Das Ausbleiben einer den Anspruch auf breite Aufklärung erfüllenden Debatte um die Haltlosigkeit der Hirntodkonzeption ist in Anbetracht staatlich finanzierter Kampagnen für die Organspende bereits ein Alarmsignal, das durch die immer häufige zu vernehmende Forderung, sterbenden Menschen Organe zu entnehmen, nicht leiser wird. Von dem Grundsatz, daß dies nur bei Zustimmung des Betroffenen erfolgen dürfe, ist es über die Feststellung seines mutmaßlichen Willens und die Reklamation akuten Organbedarfs nur ein kleiner Schritt bis zur Ausweidung nichteinwilligungsfähiger Menschen, zur Kommerzialisierung der Organspende und zur Legalisierung anderer mit staatlicher Verfügungsgewalt durchgesetzter Formen der Enteignung des Menschen selbst in seiner Leiblichkeit.

Fußnoten:

[1]‍ ‍http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/17/17168.pdf

[2]‍ ‍http://www.taz.de/!91967/

Zum Thema Transplantationsmedizin siehe auch:
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_report_bericht.shtml
http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/ip_medizin_report_interview.shtml

27.‍ ‍April 2012