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RAUB/1028: Angst regiert Arbeitsethos - Lieber schuften als Urlaub (SB)



Die Schweiz, deren ursprüngliche Akkumulation auf der Finanzierung des niederländischen Sklavenhandels gründete und die unter dem strengen Regime des Calvinismus mit exzessiver Hexenverfolgung im eigenen Haus glaubensfest für Ordnung sorgte, macht auch mit zeitgenössischen Grundsatzentscheidungen als Hochburg des Arbeitsethos von sich reden. In einer boulevardesken Mixtur aus Staunen, Spott und klammheimlicher Bewunderung kolportieren die bundesdeutschen Medien das jüngste Indiz für die Annahme, daß die Eidgenossen auch das Arbeiten erfunden zu haben scheinen. Auf den ersten Blick mute es unglaublich an, schreibt der Focus: "Am Sonntag haben sich die Schweizer per Volksentscheid gegen mehr Urlaub entschieden. Sieht man jedoch genauer hin, wird schnell klar, warum sie lieber mehr arbeiten." [1] Die Schweizer hätten sich mit deutlicher Mehrheit gegen eine Verlängerung des gesetzlichen Mindesturlaubs von vier auf sechs Wochen entschieden, berichtet der Stern: "67 Prozent der Teilnehmer stimmten gegen diese Initiative des Gewerkschaftsdachverbandes Travail.Suisse. Nur 33 Prozent votierten demnach für mehr Urlaub." [2]

"Wir arbeiten nicht nur genau, sondern sind auch fleissig", triumphierte der Schwyzer Alois Gmür, CVP-Nationalrat und Brauer, der zunftgemäß mit einem Bier auf den Sieg gegen die Ferieninitiative anstoßen will. "Dem Schweizer ist die Arbeit wichtiger als die Ferien." [3] Natürlich reagierte auch der Schweizer Arbeitgeberverband mit spürbarer Erleichterung und unverhohlener Freude auf das deutliche Nein beim Plebiszit. Die Stimmbürger hätten erkannt, daß "etwas, das anfangs angenehm tönt, bei näherem Nachdenken doch verschiedene Nachteile bringt", bilanzierte der Verbandsvorsitzende Thomas Daum den Erfolg auf ganzer Linie. Er interpretiert das Ergebnis als "Bekenntnis zu sozialpartnerschaftlichen Lösungen", die oft "deutlich über die gesetzlichen Anforderung gehen". Das Thema werde nun "für einige Zeit vom Tisch" sein, wenngleich man sich immer wieder Vorstößen zu Arbeitszeit- und Ferienfragen stellen müsse. [4]

Der Sozialkampf ist abgewendet, Vernunft hat die Oberhand behalten, reibt sich Hans-Ulrich Bigler, Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV), genußvoll die Hände: Die Bürger hätten "Realitätssinn" bewiesen. "Die Arbeitnehmenden wollen flexibel sein bei der Einteilung ihrer Ferien." Maßvolle Lösungen seien in den Gesamtarbeitsverträgen zu erarbeiten, nicht in überflüssigen Gesetzen, legte Bigler nach. Im übrigen zeige das deutliche Ergebnis, daß "die Schweiz im Vergleich mit Ländern wie Deutschland, Belgien und Frankreich kein Feriendefizit hat". Daß dieser Vergleich hinkt, macht indessen ein Blick nach Finnland deutlich, wo es 39 Urlaubstage im Jahr gibt, ohne daß dies zu wirtschaftlichen Problemen und abwandernden Arbeitsplätzen geführt hätte.

Daß das Votum des Volksentscheids eine Sternstunde freier und unabhängiger Bürgerbeteiligung war, darf gelinde gesagt bezweifelt werden. In den vergangenen Wochen seien die Gegner der Initiative viel präsenter als die Befürworter gewesen - "und nicht zuletzt waren auch die Medien auf unserer Seite", weiß Ursula Fraefel, Direktionsmitglied des Wirtschaftsdachverbands Economiesuisse, nur zu genau, woher der Wind wehte. Am Schluß sei eine "erdrückende Mehrheit" gegen die Initiative zustande gekommen. "Das war ganz am Anfang des Abstimmungskampfs nicht zu erwarten gewesen." Vor dem Urnengang hatten Arbeitgeber und Regierung zur Ablehnung der Gewerkschaftsforderung aufgerufen. Sie warnten, daß eine Verlängerung des Mindesturlaubs Milliarden kosten würde und zur Verlagerung von Arbeitsplätzen in Euro-Länder wie Deutschland führen könnte, wo die Lohnkosten deutlich niedriger seien. Auch Bundesrat und Parlament hatten die Initiative abgelehnt. Die Arbeitgeber finanzierten im Vorfeld der Abstimmung eine millionenteuere Kampagne mit dem Kernslogan "Mehr Ferien = weniger Jobs", deren Poster und Videos allgegenwärtig waren.

Schon in der Vergangenheit waren Volksinitiativen für mehr Urlaub oder weniger Arbeitszeit zumeist gescheitert. Angenommen wurde lediglich die Forderung nach einem arbeitsfreien 1. August. Die aktuelle Initiative hatte der Gewerkschaftsdachverband mit dem Argument begründet, die Arbeitnehmer bräuchten angesichts eines gestiegenen Leistungsdrucks mehr Zeit für Erholung. Nachdem die Gegner des Vorhabens die Kosten einer zusätzlichen Ferienwoche auf sechs bis sieben Milliarden Franken beziffert hatten, hielten die Gewerkschaften mit der Berechnung dagegen, daß ein Ja pro Arbeitnehmer bei einem Monatslohn von 4500 Franken nicht mehr als rund fünf Franken pro Tag kosten würde. Der Präsident des Dachverbands, Martin Flügel, bezweifelte grundsätzlich die an die Wand gemalten negativen Auswirkungen von sechs Wochen Urlaub. Erstens betrage der durchschnittliche Ferienanspruch in der Schweiz derzeit bereits fünf Wochen und zweitens seien "die Stärke der Schweizer Wirtschaft (...) gesunde, kreative und motivierte Arbeitnehmende; nicht billige Arbeitskräfte, sondern gute". Die Gewerkschaftsinitiative bezeichnete er als "eine Investition in die Volkswirtschaft".

Will man der Gegenseite vorrechnen, daß eine Entlastung der Beschäftigten vorteilhaft für alle Beteiligten an der Volkswirtschaft sei, begibt man sich zwangsläufig aufs Glatteis der Unvereinbarkeit tunlichst gemiedener gesellschaftlicher Widersprüche. So konnte Flügel nach der Niederlage nur noch trotzig erklären, die Gewerkschaft sei "stolz darauf, die Frage nach der Überbelastung am Arbeitsplatz thematisiert zu haben". Zudem habe in der Debatte niemand geleugnet, daß Arbeitsstreß Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten hat. Wenn Flügel sich so als Dennocherfolg ans Revers heftet, das sattsam Bekannte unwidersprochen erörtern zu dürfen, zeugt dies von gewerkschaftlicher Anpassungsbereitschaft, die mindestens ebenso viel zum Scheitern der Initiative beigetragen haben dürfte wie die aggressive Gegenkampagne aus Politik und Wirtschaft.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund interpretierte zweckoptimistisch das Nein der Stimmberechtigten als Auftrag an die Sozialpartner, gemeinsame Lösungen zu finden, wie der zunehmende Druck auf die Arbeitnehmenden und die Beschleunigung in den Arbeitsprozessen abgebaut werden könne. Deutlicher hätte die Kapitulation kaum ausfallen können, nachdem die Unternehmerschaft mit massiver Rückendeckung von staatlicher Seite soeben der Entlastung der Beschäftigten eine rigorose Absage erteilt hatte. Wer wie der Gewerkschaftsbund die Sozialpartnerschaft beschwört, kann der permanenten Angstkampagne, wonach jede Forderung nach reduzierten Lasten für die arbeitende Bevölkerung deren Lage nur noch schlimmer mache, schwerlich etwas entgegensetzen.

Fußnoten:

[1] http://www.focus.de/politik/deutschland/grosse-ferieninitiative-ist-gescheitert-warum-sich-die-schweizer-gegen-mehr-urlaub-wehren_aid_723185.html

[2] http://www.stern.de/politik/ausland/volksabstimmung-ueber-mindesturlaub-schweiz-entscheidet-sich-gegen-lange-ferien-1798426.html

[3] http://www.20min.ch/news/schweiz/story/-Wir-Schweizer-sind-fleissig-12846968

[4] http://www.krone.at/Welt/Schweizer_lehnen_mehr_Mindesturlaub_klar_ab-In_Referendum-Story-314511

12. März 2012