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RAUB/1010: Sparpolitik - Krisenbewältigung durch systematisch erzeugte Not (SB)



Warum wird in der sich krisenhaft zuspitzenden Finanz- und Schuldenkrise nicht über naheliegende Lösungen nachgedacht wie die Verstaatlichung des Bankensektors? Die Kreditwirtschaft könnte als ein Non-Profit-System auf die Kernaufgabe reduziert werden, Güter produzierende und Dienstleistungen bereitstellende Unternehmen mit Geldmitteln zu günstigen Zinssätzen auszustatten. Wenn die privatwirtschaftlichen Geldinstitute für ein Prozent Zinsen bei der Zentralbank Kredite aufnehmen können, um das Geld mit einem mehrfach so hohen Zinssatz in Umlauf zu bringen, warum sollte dies nicht unter Umgehung dieser Banken möglich sein? Wie können Politiker darüber lamentieren, von "den Märkten" vor sich hergetrieben zu werden, ohne das Primat der Politik durch einen solchen oder ähnlichen Vorschlag wiederherzustellen?

Vorschläge dieser Art sind auf Ebene der europäischen Regierungen und Parlamente nicht deshalb indiskutabel, weil sie absurder wären als die Unterordnung der Lebensinteressen der Menschen unter das Diktat "der Märkte". Sie werden auch nicht verworfen, weil Mehrwertabschöpfung und Überakkumulation bestehen bleiben, so daß krisenhafte Entwicklungen und der Versuch, sie durch imperialistische Landnahme zu kompensieren, nicht auszuschließen wären. Man zieht sie nicht in Betracht, weil sie die Basis kapitalistischer Herrschaft, den bis zur Grenze offenkundigen Widersinns verleugneten Duopol aus Staat und Kapital, schwächten und die Möglichkeit einer systemischen Veränderung in greifbare Nähe rückten.

So sind sich die Bundesregierung und die EU-Kommission bei allem Streit um die Frage, ob die staatliche Kreditaufnahme etwa durch eine Fiskalunion oder durch Eurobonds zu sanieren wäre, einig in der Auffassung, daß die Reproduktion der europäischen Volkswirtschaften durch striktere Haushaltsdisziplin, also eine administrativ orchestrierte Austeritätspolitik, zu gewährleisten sei. Bundeskanzlerin Angela Merkel vertritt die Interessen des in der Bundesrepublik angesiedelten Kapitals, indem sie verlangt, die Mittel zur Refinanzierung der überschuldeten Staaten durch Kürzungen bei den lohnarbeitenden und von Sozialtransfers abhängigen Bevölkerungen im jeweils nationalen Rahmen zu erwirtschaften, was im Klartext bedeutet, der Bundesregierung die Rolle des Zuchtmeisters zu übertragen. Das Konstrukt einer Währungsunion aus Staaten, die trotz unterschiedlicher Produktivitätsniveaus nicht gegeneinander auf- oder abwerten können, hat die in Deutschland angesiedelte Wirtschaft bevorteilt und soll erhalten bleiben. Eine gemeinsame Haftung aller Staaten der Eurozone durch Eurobonds, wie von der EU-Kommission verlangt, lehnt Merkel ab, weil andere Bevölkerungen vom Zinsvorteil deutscher Staatsanleihen profitieren und diese Haftungsgemeinschaft die allgemeine Kreditaufnahme verteuern könnte. Gleichzeitig versucht die Bundesregierung, das Auseinanderbrechen der Eurozone zu verhindern, weil die Rückkehr zu nationalen Währungen den währungstechnisch begründeten Exportvorteil deutscher Unternehmen umkehrte.

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso will in allen Euro-Ländern Schuldenbremsen einführen und eine strikte Haushaltsdisziplin durchsetzen, die von der Kommission überwacht wird. Auch in seinem Plan zur Rettung des Euro sollen die Menschen, die über kein nennenswertes Vermögen verfügen und daher ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, den größten Teil der Zeche zahlen. Wie mit einer Sparpolitik, ob nun national oder supranational verordnet, die drohende Rezession der Eurozone aufgehalten werden soll, können weder Merkel noch Barroso überzeugend erklären. Die propagierte Rückkehr zu höheren Wachstumsraten ist durch die Reduzierung der Lohnkosten und Sozialtransfers in einer Weltwirtschaft, deren Akteure sich in einem kannibalistischen Wettstreit um Standortvorteile befinden, wenn überhaupt, dann nur durch noch tiefere soziale Disparität zu erreichen. Um so mehr wird auf die Hebelung der finanzkapitalistischen Akkumulation gesetzt, wie das Ausbleiben jeglicher wirksamen Regulation der Finanzmärkte trotz anderslautender Versprechungen seit dem manifesten Ausbruch der Krise 2007 belegt.

Was Märkte und Staaten gleichermaßen in Atem hält, ist die nichtvorhandene Deckung der weltweit nach Anlagemöglichkeiten suchenden Geldmengen durch per Arbeit produzierte Güter. Wollte man versuchen, diese Geldmengen gleichzeitig in Form von Waren zu realisieren, dann flöge der bloße Schein ihres Wertanspruchs vollends auf. Daß es Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen, die die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zur Sicherung ihres Überlebens einsetzen müssen, an Geld mangelt, obwohl es in Überfülle vorhanden ist, ist kein Widerspruch. Was ihnen mit Hilfe einer wachstumsorientierten wie antiinflationären Sparpolitik genommen wird, fließt nur zum geringeren Teil in den Luxuskonsum der Kapitaleigner und Rentiers. Das Gros der akkumulierten Geldmengen wird reinvestiert, und das mangels renditeträchtiger Anlagemöglichkeiten in Industrie und Dienstleistungsgewerbe auf dem Finanzmarkt. Dort stellt es sich, übersetzt auf die sozialen Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften, als Manövriermasse der herrschenden wie als Mangeläquivalent der beherrschten Klasse dar.

Der im Fehlen verfügbaren Geldes schmerzhaft erlittene Mangel ist nicht nur Folge einer ungerechten Verteilung vorhandener Ressourcen und Produkte. Die finanzielle Überakkumulation verschleiert auch die unter den herrschenden Produktionsbedingungen unzureichende Verfügbarkeit essentieller Güter und Leistungen zur Lebenssicherung. Die immer wieder exemplarisch aufgemachte Rechnung, daß ein dem westeuropäischen Lebensstandard entsprechender Konsum der Bevölkerung Chinas katastrophale Folgen ökologischer Art hätte, deutet bereits an, daß das herrschende Akkumulationsregime nicht allein ungerechte Verteilung praktiziert, sondern an einem grundsätzlichen Stoffproblem scheitert. Wenn etwa die Herstellung bestimmter Waren unter intensivem Verbrauch einer unersetzbaren Ressource wie Süßwasser erfolgt, dann ist ihre im Sinne des Wachstumprimats angestrebte Verfügbarkeit nicht unendlich steigerbar.

Da der neue Mensch, der die Früchte dieser Erde unter schonendsten Bedingungen erwirtschaftet und solidarisch mit allen teilt, nicht von sich aus entsteht, da eine gerechtere Gesellschaft, die mit dem Argument erkämpft wird, ein größeres Stück vom Kuchen zu erhalten, an der nicht überwundenen Vergleichsgrundlage der Überlebenskonkurrenz scheiterte, scheint der Kapitalismus in seinem beanspruchten Zweck einer über den Tauschwert regulierten Verteilungsordnung allemal sozialdarwinistischen Sinn zu machen. Der Zweck der als Triebkraft jeglicher Ökonomie anerkannten Peitsche des Mangels erschöpft sich nicht in der Ratio der betriebswirtschaftlichen Kostensenkung. Die Konditionierung befriedigender Lebensverhältnisse auf Normen der Anpassungs- und Leistungsbereitschaft, die erst im Spiegel marktwirtschaftlicher Parameter in einen individuellen Vorteil umgemünzt werden können, so daß der Mensch in diesen Maßstäben rückstandslos verschwindet, sichert die Herrschaft staatlicher wie ökonomischer Verfügungsgewalt.

Eine Verstaatlichung der Kreditwirtschaft kommt ungeachtet aller sonstigen Probleme wie etwa des aufrechterhaltenen Widerspruchs des kapitalistischen Wachstumsprimats schon deshalb nicht in Betracht, weil sie den Erwerbsarbeitern und Leistungsempfängern zu viel Freiheit ließe, diese Normen in Frage zu stellen, über die systemischen Grenzen des Kapitalismus nachzudenken, sich zusammenzutun und sie zu überwinden. Bei dem Dissens zwischen Bundesregierung und EU-Kommission geht es nicht um mehr oder weniger innereuropäische Solidarität oder andere altruistisch wirkende Motive, es gibt lediglich Meinunsverschiedenheiten darüber, wie die Unterwerfung der Bevölkerungen unter das Diktat materiellen Mangels, ihre Zurichtung auf die Flexibilitätserfordernisse der Käufer ihrer Lohnarbeit, ihre Einschüchterung und Atomisierung effizienter durchzusetzen sind.

23. November 2011