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RAUB/0940: Die Zukunft der Lohnarbeit liegt in archaischen Formen der Ausbeutung (SB)



Die wirtschaftspolitischen Rezepturen des Ökonomen Hans-Werner Sinn sind, von allen Irrungen und Wirrungen seiner Wachstumsapologetik im Vorfeld der Weltwirtschaftskrise unbeschadet, nach wie vor gefragt. In der derzeitigen Debatte um die Höhe der Regelsätze des Arbeitslosengelds II bietet es sich an, den Neoklassiker Sinn aus der Schublade zu holen, um der Bedrohung der Kapitalinteressen durch höhere Sozialtransfers Herr zu werden. Dabei spricht der Präsident des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung im Deutschlandfunk (16.02.2010) dankenswerterweise Klartext.

Die Regierungsparteien betreiben die Fortsetzung der Politik geringer Lohnkosten mit dem Argument, daß es ungerecht sei, wenn das Erwerbseinkommen im Niedriglohnsektor kaum höher sei als die Hartz IV-Leistungen. Die naheliegende Lösung, den Lohnabstand durch einen gesetzlichen Mindestlohn zu gewährleisten, lehnen sie dennoch ab. Was die Rendite des Kapitals schmälert, ist nicht in ihrem Interesse. Dies wird aus naheliegenden Gründen so nicht gesagt wird. Man behauptet statt dessen, Mindestlöhne seien unbezahlbar und torpedierten das notwendige Wirtschaftswachstum, ohne allerdings die von jedem Menschen, der sein Geld mit harter Arbeit verdienen muß, nur als Affront zu verstehende Behauptung zurückzunehmen, daß die Höhe des Einkommens äquivalent zum Ausmaß der erbrachten Leistung sei.

Sinn ist zwar der gleichen Ansicht, gesteht aber ein, daß "es gerecht wäre, Mindestlöhne zu haben". Dies ginge allerdings "dann doch an der Wirklichkeit vorbei", weil es "nicht genug schöne Jobs" gebe, "die einen politisch akzeptablen Mindestlohn bezahlen können, und insofern wäre das dann eine Rückkehr zu wieder mehr Arbeitslosigkeit, wie wir das bis zum Jahre 2005 hatten. Gott bewahre uns!" Da der Herr ein Gott der Reichen ist, wie die Politik der Parteien mit dem großen C im Namen belegt, wird er ihm diesen Wunsch wohl erfüllen. Sinn hat die rot-grüne Arbeitsmarktreform von Anfang an begrüßt und durch sinnige Vorschläge von der Art begleitet, Ein-Euro-Jobber als Leiharbeiter in der privaten Wirtschaft einzusetzen, die Wochenarbeitszeit auf 42 Stunden ohne Lohnausgleich zu erhöhen, die Einkommen in den ostdeutschen Bundesländern drastisch zu senken oder kinderlose Bürger durch Rentenkürzungen abzustrafen. In seinem Kampf gegen den Mindestlohn bezifferte er das Höchstmaß eines Zugeständnisses an die einkommensschwache Bevölkerung mit der Obergrenze von weniger als drei Euro.

Die klassische, von SPD und Grünen abgeschaffte Arbeitslosenversicherung begriff Sinn stets als ausschließlich kontraproduktive, da Lohnsteigerungen begünstigende Maßnahme, und so singt er seit fünf Jahren ein Loblied auf diese "sinnvolle Reform". "Weniger Geld fürs Wegbleiben und mehr fürs Mitmachen" heißt "Fördern und Fordern" in seiner Diktion. Mitmachen sollen die Erwerbslosen dabei, die Kosten der Kapitalakkumulation nicht nur auf ihren Rücken, sondern denen aller Steuerzahler zu verteilen, ist Sinn doch seit jeher ein Verfechter der staatlichen Bezuschußung des Niedriglohnsektors. Dementsprechend hat er nichts dagegen einzuwenden, daß die Löhne für Vollzeitarbeit so gering sein können, daß ihre Bezieher dennoch staatliche Leistungen in Anspruch nehmen müssen, um zu überleben: "Wir haben heute 1,4 Millionen Lohnzuschussbezieher in Deutschland über das Hartz-IV-System und haben dadurch eine Million Jobs über das hinaus geschaffen, was sonst bei der Wirtschaftsentwicklung zu erwarten gewesen wäre. Diesen Erfolg muss man fortsetzen und jetzt durch eine Stärkung der Hinzuverdienstmöglichkeiten letztlich das Mitmachen, das Arbeiten belohnen."

Als lernresistenter Verfechter der Angebotstheorie geht Sinn unbeirrt davon aus, daß sich jedes Angebot eine ihm gemäße Nachfrage schaffe. Daher könne es auch keine Arbeitslosigkeit geben, solange der Staat nicht mit fiskalischen Maßnahmen oder gesetzlichen Mindestlöhne in den freien Wettbewerb eingreife. Der Weg zur Lohnanpassung nach unten habe immer frei zu sein, so Sinns Lehre, die er ordoliberal mit der Forderung nach staatlichen Lohnzuschüssen an das Sozialstaatsgebot anpaßt. Die propagierte Versöhnung von Marktwirtschaft und Sozialstaatlichkeit soll eine Innovationsdynamik in Gang setzen, die mit jeder Krise fertig werde, wenn sich der Staat nur jeglicher Eingriffe enthalte, die die über das Angebot gesteuerte Preisbildung manipulierte.

Eine Überproduktionskrise sei damit ausgeschlossen, tendieren Angebot und Nachfrage bei frei flottierender Preisbildung doch stets zum Ausgleich. Diese Glaubenslehre hat sich in der Weltwirtschaftskrise als so haltlos erwiesen wie die Theorie, daß Arbeit eine Ware wie jede andere und dementsprechend zu verbilligen wäre. Die Absetzbarkeit von Konsumgütern hat sich massiv verschlechtert, gerade weil die Menschen immer weniger Geld übrig haben. Gleichzeitig sorgt die mikroelektronische Phase der Produktivkraftentwicklung dafür, daß humane Arbeit ersatzlos wegrationalisiert wird. Hat der technische Fortschritt früher dazu geführt, eine arbeitsintensive Produktionsweise durch entsprechend arbeitsintensive Technologien abzulösen, so bewirkt die Entwicklung mikroelektronisch gesteuerter Produktionsprozesse in Industrie wie Verwaltung einen in der Geschichte des Kapitalismus beispiellosen Abbau menschlicher Arbeit.

Um dennoch neue Jobs zu schaffen, bieten sich, wenn man das Ziel der Vollbeschäftigung, ohne das die Bezichtigungslogik selbstverschuldeter Erwerbslosigkeit nicht zu vertreten ist, aufrechterhalten will, nurmehr Formen von Lohnarbeit an, deren Einkommensniveau weit unter den Reproduktionskosten liegt. Dies läuft auf eine Qualifikation der Verfügbarkeit menschlicher Arbeit hinaus, deren Zwangscharakter mit der Arbeitsverwaltung nach Hartz IV bereits vorgedacht wurde. Ein System, das dem Kapital die Freiheit läßt, seine Akkumulation finanzkapitalistisch zu entufern und damit die Lebensgrundlage aller von Lohnarbeit abhängigen Menschen in Frage zu stellen, das deren Lebensinteressen dem Preis der Arbeit nachordnet, während es die demokratische Einflußnahme auf die Bedingungen, unter denen produziert wird und welche unternehmerischen Entscheidungen dazu getroffen werden, weitgehend unterbindet, ist auch bereit, zu archaischeren Formen der Ausbeutung zurückzukehren.

Der Innovationsfähigkeit einer Arbeitsgesellschaft, die es für gerecht hält, daß Kapitaleigner von der physischen Verausgabung jener Arbeiter profitieren, deren Leistung sich nicht lohnen kann, weil ihr Lohn immer nur den Rest dessen darstellt, was ihnen bereits genommen wurde, sind bei der Qualifikation des Raubes keine Grenzen gesetzt. Das legale Verhungern von Millionen Menschen ist schließlich auch kein Ding der Unmöglichkeit. In einer Weltwirtschaftsordnung, in der Rentabilitätskriterien wichtiger sind als die Sicherung existentieller Interessen, ist der Raub an der Kreatur, zu der das nackte, von jeglichem Anspruch auf Existenzsicherung befreite menschliche Leben degradiert wird, stets Voraussetzung der Kapitalakkumulation geblieben. Die am Beispiel Sinns, der zu den maßgeblichen Wegbereitern des Hartz IV-Regimes im Wissenschaftsbetrieb zählt, dargestellte Wirtschaftstheorie ist durchaus in der Lage, in ihrer funktionellen Reinheit Sklavenarbeit zu legitimieren.

16. Februar 2010