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RAUB/0906: Ostdeutschland verarmen lassen, um die Rendite zu sichern (SB)



In der Debatte um die Abschaffung des Solidaritätszuschlags respektive der Erhöhung von Verbrauchssteuern und Rentensteuern zeigt sich, daß die neoliberale Doktrin die Wirtschaftskrise unbeschadet überstanden hat. Es wird weiterhin zugunsten der Kapitaleigner umverteilt, weil angeblich nur auf diese Weise Wirtschaftswachstum zu erzeugen ist. Tatsächlich wird mit der Fortsetzung realer Lohnsenkungen bei gleichzeitiger Begünstigung vermögender Steuerzahler der Klassenwiderspruch verschärft und die vielbeschworene innere Einheit zerstört.

Der Solidaritätszuschlag nimmt symbolpolitisch einen besonders hohen Stellenwert ein, da er in direktem Zusammenhang zum Anschluß der DDR an die BRD steht. Wenn sich Kanzleramtsminister Thomas de Maizière grundsätzlich gegen eine "Sonderbehandlung" Ostdeutschlands wendet und andere Unionspolitiker die Abschaffung des Solidaritätszuschlags fordern, dann kündigen sie damit auch die mit der schnellen Abwicklung der DDR eingegangene Verpflichtung auf, für das Wohlergehen der neuen Bundesbürger zuständig zu sein.

Während die Legende von der wirtschaftlich nicht mehr zu rettenden Volkswirtschaft der DDR unverändert fortgeschrieben wird, will man die wachsende soziale Kluft zwischen alten und neuen Bundesländern nicht mehr mit Bundesmitteln kitten. Da die Einkommenslage in der Wirtschaftskrise überall unter Druck geraten ist, bricht sich die sozialdarwinistische Mentalität der neoliberalen Konkurrenzgesellschaft vollends Bahn. Nicht nur der Unterschied zwischen Arm und Reich, auch der zwischen West und Ost sowie zwischen Stadt und Land wird vertieft, um eine Dynamik der Kapitalakkumulation zu erzeugen, die mehr denn je von existentieller Not angetrieben wird.

In einem Kommentar der Welt am Sonntag (16.08.2009) wird das in Westdeutschland verbreitete Ressentiment, mit der Alimentierung Ostdeutschlands die dort lebenden Menschen unverdientermaßen zu begünstigen, auf bezeichnende Weise illustriert:

"Doch spätestens zum zwanzigsten Jahrestag der deutschen Einheit sollte der Soli abgeschafft werden - und sich das wiedervereinigte Deutschland mit einer Steuerreform belohnen, von der insbesondere jene Wachstumsinseln im Osten profitieren, die heute schon viele Arbeitsplätze schaffen. Will Deutschland zukunftsfähig bleiben, muss das Steuersystem einfacher, leistungsfreundlicher und gerechter werden: Gerade die Menschen aus der ehemaligen DDR wissen, wie schlecht ein größenwahnsinniger Staat mit Geld umgehen kann. Das Ende der Bevormundung der Planwirtschaft hat viele blühende Landschaften ermöglicht. Damit auch der Rest erblüht, taugt der Soli als Dünger nicht mehr".

Blühende Landschaften sind zwar im Wortsinn entstanden, weil die Deindustrialisierung Ostdeutschlands und die Abwanderung seiner Bevölkerung der Natur mehr Platz gemacht haben. Die Senkung der Einkommens-, Kapitalertrags- und Körperschaftssteuer durch die Abschaffung des Solidaritätszuschlags kommt ebenso wie andere Steuererleichterungen für Besserverdienende und Kapitaleigner lediglich Investoren zugute, die in Zonen hoher Produktivität tätig sind, während das Umfeld verarmt. "Wachstumsinseln" entsprechen dem wirtschaftsgeographischen Ausbau sogenannter Clusterregionen, in denen sich alle Bereiche des öffentlichen Lebens um industrielle Zentren gruppieren und den Interessen der dort ansässigen Unternehmen unterwerfen. Mit diesem Konzept wird dem Anspruch, die Bundesrepublik in der Fläche zu entwickeln und den Anschluß armer Regionen an das allgemeine Produktivitätsniveau mit Transferleistungen zu ermöglichen, vollends aufgehoben.

Eine solche Verabsolutierung des Standortdenkens, zu der es durchaus umfassender staatlicher Planung bedarf, die allerdings der Maßgabe der Lobbyisten des Kapitals zu genügen hat, vertieft die soziale Spaltung zugunsten der ökonomischen Erpreßbarkeit aller Menschen, die nicht das Privileg genießen, ihr Überleben in einem der hochproduktiven urbanen Zentren zu sichern. Öffentlich geforderte Leistungen aller Art sind nur noch zu rechtfertigen, wenn sie der Verfügbarkeit qualifizierter Lohnarbeit für das Kapital dienen. Der Rest der Bevölkerung wird auf Almosenniveau heruntergestuft und darf sich in zusehends verödenden Landschaften um die übriggebliebenen Möglichkeiten balgen, ein Minimum an Überlebenssicherheit zu gewährleisten.

In einer solchen Zukunft ausschließlich leistungsorientierter Mittelvergabe wird das in Ostdeutschland erreichte Armutsniveau nicht nur zementiert, sondern zur postindustriellen Vierfünftelgesellschaft, in der nur noch 20 Prozent der Bevölkerung für Produktion und Reproduktion benötigt werden, ausgebaut. Warum wohl hat man den DDR-Bürgern 1989 und 1990 nicht die Chance auf eine eigenständige Entwicklung gegeben, um in eigener Entscheidung eine tatsächliche Wiedervereinigung anzustreben, die dem ganzen Land eine neue gesellschaftliche Grundlage beschert hätte? Weil die Leistungsgerechtigkeit neokonservativer Sozialingenieure und das Wohlleben neofeudaler Eliten stets krasser sozialer Widersprüche bedarf, um richtig genossen werden zu können. Groß in ihren Augen ist, wer den Raub perfektioniert, und wahnsinnig, wer soziale Gerechtigkeit plant.

17. August 2009