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RAUB/0874: Systemrelevanz nach Lesart der Bundeskanzlerin (SB)



Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich am Mittwoch in dankenswerter Klarheit zu den Prioritäten staatlicher Krisenbewältigung geäußert. Ihr auf einer Sitzung der Unionsfraktion im Bundestag abgegebenes Diktum, es gebe zwar "systemrelevante Finanzinstitute", es gebe aber "keine systemisch wichtigen gewerblichen Unternehmungen", kann als Verfassungsgrundsatz der kapitalistischen "Wettbewerbsdemokratie" verstanden werden. Daß deren Verfechter, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, die Frage, ob der Kapitalismus inzwischen gefährlicher sei als der Terrorismus, heute nicht mehr verneinen will (Stuttgarter Zeitung, 18.02.2009), kann nicht unbedingt beruhigen, läßt diese Bewertung doch ahnen, daß zur Bewältigung dieser Gefahr auch ähnlich umfassende Gewaltmittel des Staates in Frage kommen.

Die von Merkel getroffene Unterscheidung zwischen rettenswerten Banken und sich selbst überlassen bleibenden Industriebetrieben wird in der Bundesrepublik derzeit anhand des Vergleichs zwischen den gigantischen staatlichen Mitteln, die zur Refinanzierung der Hypo Real Estate (HRE) aufgebracht werden, und der möglichen Insolvenz der GM-Tochter Opel diskutiert. Die Systemrelevanz der HRE ergibt sich aus der zentralen Stellung der Bank, deren Ausfall durch ganze Ketten weiterer Zusammenbrüchen auf dem Finanzmarkt quittiert würde. Gerettet werden soll auf diese Weise nicht nur der Kapitalismus als ganzes, sondern das System der sozialen Marktwirtschaft, sprich die neoliberale Verfaßtheit der bundesrepublikanischen Wirtschaft und Gesellschaft. Da Alternativen wie die generelle Verstaatlichung in Not geratener Banken die Frage nahelegte, ob eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel nicht vielleicht doch eine gangbare und vor allem sozial gerechtere Alternative zum privatwirtschaftlichen Kapitalismus sein könnte, soll auch dies nur im eng umgrenzten Ausnahmefall erfolgen.

Noch näher an jene angeblich sozialistischen Verhältnissen, die die FDP bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Menetekel der aktuellen Krisenbewältigung an die Wand malt, grenzte die umfassende Übernahme produzierender Unternehmen durch den Staat. Mit der Enteignung maroder Industrien und ihrer Überführung in staatliche Verwaltung bewegte sich die Bundesrepublik auf administrative Verhältnisse zu, die die Möglichkeit einer sozialistischen Entwicklung zurück in den Horizont denkbarer Veränderungen holten.

Das Problem einer Rettung Opels, die vor allem mit dem Argument des Erhalts von Arbeitsplätze begründet wäre, besteht in einer prinzipiellen Aufwertung des Faktors humaner Arbeit. Zwar wird dieser Entwicklung mit den Zugeständnissen, die der Arbeiterschaft Opels hinsichtlich der Lohnentwicklung, der Arbeitsbedingungen und eines Aderlasses bei den Arbeitsplätzen abgenötigt werden sollen, entgegengewirkt. Dennoch soll das Argument des Arbeitplatzerhalts weniger wiegen als die betriebswirtschaftliche Logik, die das Unternehmen angesichts der vorhandenen Überkapazitäten im Bereich der Autoproduktion als verzichtbar erscheinen läßt.

Arbeitsplätze um ihrer selbst willen, sprich im Interesse der Lohnabhängigen, zu erhalten läuft der Entwertung menschlicher Arbeit entgegen, die durch die mittels Digitalisierung und Automatisierung dynamisierte Produktivkraftentwicklung seit Jahrzehnten billiger und austauschbarer gemacht wird. Der Sozialkampf wurde mit der Verdrängung der Lohnarbeit in niedrig entlohnte Jobs und die Ausweitung eines hochflexiblen Dienstleistungsbereichs erfolgreich gegen die Klassenidentität der Arbeiterschaft geführt. Das fordistische Industrieproletariat, das in der Automobilproduktion stets einen starken Stand hatte, wurde durch die Auslagerung großer Teile der Fertigung in Subunternehmen, die zudem häufig in Billiglohnländern angesiedelt sind, so daß die dort eingesetzten Arbeiter von vornherein gegen ihre deutschen Kollegen ausgepielt werden, durch die Einziehung neuer Spaltungen in Form strukturell miteinander konkurrierender Unternehmensteile und des verstärkten Einsatzes von Leiharbeitern und prekär Beschäftigten sowie durch die Korrumpierung der Gewerkschaften im Rahmen einer national orientierten Standortlogik wirksam in seiner Kampffähigkeit geschwächt.

Die Systemrelevanz, von der Merkel spricht, basiert auf dem Erhalt der Erpreßbarkeit der Arbeiterschaft durch die Verknappung verfügbarer Lohnarbeit und der demonstrativen Subordination des Faktors Arbeit unter eine betriebswirtschaftliche Logik, deren Elemente unabhängig von ihrer sozialen Relevanz gegeneinander auszutarieren sind. Die operative Handlungsfähigkeit des Finanzkapitals soll demgegenüber unverzichtbar sein, weil seine Hebelwirkung die Kompensation realwirtschaftlicher Zwangslagen und damit den Erhalt der Klassenherrschaft der Kapitaleigner und Funktionseliten zu gewährleisten verspricht. Die die gesamte Phase neoliberaler Angebotspolitik kennzeichnende Expansion des Kapitals in noch nicht verwertbar gemachte Bereiche staatlicher Regulation und gesellschaftlichen Nutzens hat Herrschaftsverhältnisse generiert, die mit einer Veränderung dieser Entwicklung hinfällig wären.

Daher ist all das systemrelevant, was die vertikale Struktur der sozialen Marktwirtschaft nicht nur konserviert, sondern qualifiziert. Die Sicherung des Bestandes reicht angesichts der krisenbedingten Legitimationszwänge längst nicht mehr aus, sie hat sich fortzuentwickeln, ohne die bestehenden Produktionsverhältnisse in Frage zu stellen. Das kann angesichts der Unausweichlichkeit staatlicher Intervention, wie mit dem Einspringen des Bundes für HRE attestiert, in das zentrale Regulativ allen kapitalistischen Wirtschaftens durchaus die Gestalt eines zeitgemäßen korporatistischen Ständestaats, wie im Italien und Österreich der 1930er Jahre angestrebt, annehmen.

In jedem Fall läge die massive Einschränkung individueller Freiheiten insbesondere für Menschen, die wie Langzeitarbeitslose als auf unumkehrbare Weise unproduktiv stigmatisiert werden, auf dem Weg einer solchen Qualifikation staatlicher Verfügungsgewalt. Den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zu Lasten letzterer weiterzuentwickeln erfordert eine Aufrüstung an autoritärer Ordnung und Organisation der Gesellschaft, die den Anspruch auf bürgerliche Liberalität vollends der Sicherung herrschender Interessen überantwortete.

7. März 2009