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HERRSCHAFT/1908: Schlachtfabrik Tönnies und das Problem der Schuldumkehr ... (SB)



Armin Laschets Behauptung, für den COVID-19-Ausbruch in einer der größten Schlachtfabriken der Republik seien Rumänen und Bulgaren verantwortlich zu machen, die das Virus bei der Einreise mitgebracht hätten, sei "unbedacht" gewesen, meint die Rheinische Post. Ein Kommentator des RND verbietet sich die "Scheindiskussionen" um diese "etwas ungelenke Äußerung", so etwas müsse doch "erlaubt sein" [1]. Ja, wo sind wir denn, wenn wir nicht einmal mehr mit dem Finger auf ArbeitsmigrantInnen zeigen können, deren Privileg, hier in Deutschland gutes Geld verdienen zu dürfen, damit quittiert wird, daß sie Seuchen einschleppen. Ein Politiker wie der NRW-Ministerpräsident muß gerade vor dem Hintergrund, daß derzeit weltweit über Rassismus gesprochen wird, in Schutz genommen werden vor Anwürfen, die etwas Derartiges unterstellen könnten.

Nun ist Laschet, wie man bei solchen Anlässen gerne sagt, zurückgerudert und hat erklärt, es verbiete sich, "Menschen gleich welcher Herkunft irgendeine Schuld am Virus zu geben" [2]. Warum an erster Stelle etwas tun, was an zweiter zurückgenommen werden muß, erklärt sich bei einem Spitzenpolitiker mit Kanzlerambitionen nicht durch situative Unübersichtlichkeit oder andere unkalkulierbare Einflüsse. Hätte Laschet entsprechendes über jüdische Einwanderer gesagt, dann wäre die Aufregung zweifellos groß gewesen, handelt es sich bei derartigen Verdächtigungen doch um das klassische antisemitische Stigma von "jüdischen Brunnenvergiftern". Ohnehin ist die Bezichtigung nomadisierender Lebensformen, das Übel von einem Ort zum anderen zu transportieren, keine Erfindung eines Trump, der dergleichen über MigrantInnen aus Lateinamerika behauptet.

Es ist die uralte Feindseligkeit gegenüber ortsungebundenen Menschen, die heute in der systemischen Abwehr meist nichtweißer Flüchtlinge und deren Ertrinken im Mittelmeer zu einem permanenten Zeugnis der Agressivität des europäischen Neokolonialismus geworden sind. Es ist die endemische Feindseligkeit gegenüber Sinti und Roma, die in der EU ebenso Zielscheibe rassistischer Verachtung sind wie People of Color oder die Indigenen Skandinaviens, die von strukturellem Rassismus wie konkreter Unterdrückung manches Lied zu singen wissen.

Laschet sollte auch deshalb wissen, was er an einer solch empfindlichen Stelle sagt, weil mit rumänischen und bulgarischen WerkvertragsarbeiterInnen in der Bundesrepublik umgesprungen wird wie mit einer neoliberalen Version von ZwangsarbeiterInnen. Sich in der Bundesrepublik aus Armut zu schlechtesten Bedingungen zu verdingen ist Ausdruck einer Not, die in den deutschen Schlachtfabriken fortgeschrieben wird, wenn billige Arbeitskräften aus Südosteuropa durch Abzüge aller Art und andere Schikanen nach Strich und Faden ausgebeutet werden. So sind Werkverträge auch nicht der Kern des Problems, wie angesichts des aktuellen COVID-19-Ausbruches in Rheda-Wiedenbrück dargestellt, ihnen voraus geht die prinzipielle, systematisch aufrechterhaltene soziale Ungleichheit zwischen den verschiedenen EU-Mitgliedstaaten als auch in den Klassengesellschaften ihres Binnenraumes.

Massive Unterschiede in Produktivität und Einkommen sind die Basis einer transnationalen Arbeitsteilung und Standortkonkurrenz, die auch innerhalb der EU aufrechterhalten bleiben soll, um ihrem hegemonialen Kernstaat günstige Akkumulationsbedingungen zu garantieren. Die Schlachtindustrie in Deutschland wird so sehr von Lohndrückerei angetrieben, daß die Unterschiede zwischen den ArbeiterInnen und den Tieren verschwimmen, werden sie doch auf jeweils eigene Art in den großen Fleischwolf profitorientierter Produktion eingespeist.

Da Viren im feuchten, kalten Milieu der Schlachtfabriken ohnehin gute Verbreitungsvoraussetzungen haben und der hohe Arbeitsdruck sicherlich nicht dazu beiträgt, sich viel Zeit für Hygieneverrichtungen zu nehmen, gäbe es zweifellos viel zu sagen zu der Tatsache, daß diese Orte nicht nur in der Bundesrepublik immer wieder zu Hotspots der Coronapandemie werden. Auch hält es die Virologin Isabella Eckerle, Leiterin der Forschungsgruppe Emerging Viruses in der Abteilung für Infektionskrankheiten der Universität Genf, schon aufgrund der Inkubationszeit für "extrem unwahrscheinlich", daß die Ansteckung Hunderter Beschäftigter auf Wochenendbesuche zurückzuführen sei [3].

Diesem Artikel auf faz.net ist auch zu entnehmen, daß Laschet sich mit seinem Verweis auf die vermeintliche Ursache der COVID-19-Infektion in Rheda-Wiedenbrück auf den Leiter des Pandemiestabs des betroffenen Unternehmens bezogen hat. Dieser hatte unter anderem "die Heimreisen der Beschäftigten nach Osteuropa an langen Wochenenden als mögliche Faktoren für die Ausbreitung des Coronavirus genannt" [4]. Diese Form der Schuldumkehr, die Folgen der eigenen Produktionsbedingungen auf die dafür eingekauften Arbeitskräfte zu schieben, erinnert daran, daß Firmenchef Clemens Tönnies vor einem Jahr das Reproduktionsverhalten in Afrika lebender Menschen für ökologische Probleme verantwortlich gemacht hat [5]. Ganz bestimmt hat die massive Expansion der Schlachtindustrie nichts mit den anwachsenden Problemen des Klimawandels und der Naturzerstörung zu tun, schließlich finden sich immer Menschen, deren Not und Elend man dadurch vergrößern kann, daß man sie bezichtigt, auch für diese Misere verantwortlich zu sein.


Fußnoten:

[1] https://www.rnd.de/politik/laschet-uber-rumanen-und-bulgaren-das-muss-erlaubt-sein-3J7ZKMN3LNDRPLJLXAJO6ZF5BY.html

[2] https://www.faz.net/2.1652/corona-bei-toennies-laschet-stellt-aussage-zu-rumaenen-und-bulgaren-klar-16820979.html

[3] https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/gesundheit/coronavirus/corona-ausbruch-bei-toennies-schritt-wohl-laenger-unbemerkt-fort-16820726.html

[4] a.a.O.

18. Juni 2020


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