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HERRSCHAFT/1907: Coronapandemie in Großbritannien - zu lange gezögert ... (SB)



In diesem Land wird dem weißen, in Eton ausgebildeten Mann so umfassend vertraut, daß sie während einer Pandemie tatsächlich nichts anderes wollen als daß ein weißer Eton-Mann kommt und sie rettet (...) Die britischen Systeme sind so tief in Klassismus und weißer Dominanz und Rassismus verwurzelt, daß die gesamte politische Klasse vollständig von dem, was wirklich im Land vor sich geht, separiert ist (...) Es ist kulturell bedingt, daß viele Briten blindes Vertrauen in die Unterdrücker setzen.
Shahmir Sanni, Autor der Byline Times, in einer Diskussion [1]

Fast 300.000 Infizierte, deren Zahl weiterhin mit über 1000 Neuinfektionen pro Tag ansteigt, und fast 42.000 auf COVID-19 zurückgeführte Todesfälle, so der Stand am 17. Juni, haben bewirkt, daß das Vereinigte Königreich zumindest bei den Todesfällen führend in Europa ist. Übertroffen wird es bei der Zahl der Infizierten nur von der Russischen Föderation, die aber eine weit geringere Todeszahl angibt. So bedingt zuverlässig das Zahlenwerk der Ländervergleiche auch immer sein mag, die Entwicklung in Großbritannien sticht doch auch deshalb hervor, weil die Regierung Johnson anfangs auf eine andere Strategie der Seuchenbekämpfung als in den meisten anderen europäischen Ländern gesetzt hat. Propagiert wurde das schnelle Erreichen der sogenannten Herdenimmunität, also einer umfassenden Ansteckung der Bevölkerung zwecks Erlangen allgemeiner Immunität.

Aufgegeben wurde dieses Konzept erst, als das Imperial College COVID-19 Response Team in London am 16. März eine Studie veröffentlichte, aus der unter anderem hervorging, daß eine ungehemmte Ausbreitung von COVID-19 im United Kingdom zu einer halben Million Todesfällen führen könnte. Erst dann ordnete Premierminister Boris Johnson einen umfassenden Lockdown an. Doch da war es schon zu spät - vor allem das traditionelle Pferderennen in Cheltenham, bei dem vom 10. März an fünf Tage lang täglich bis zu 70.000 Menschen die Rennstrecke säumten, aber auch gutbesuchte Popkonzerte und andere Massenevents Mitte März werden aus heutiger Sicht als Inkubatoren der Pandemie auf den britischen Inseln betrachtet. Die entschiedenen Maßnahmen, die am 23. März ergriffen wurden, konnten nichts mehr daran ändern, daß das Virus zu diesem Zeitpunkt schon in weiten Teilen der Bevölkerung um sich gegriffen hatte.

Im Ergebnis hat die Strategie, die erklärtermaßen der Aufrechterhaltung der Wirtschaft dienen sollte, dazu geführt, daß UK laut OECD-Prognose mit 11,5 Prozent BIP-Rückgang 2020 den schwersten Einbruch an ökonomischen Aktivitäten unter allen Industriestaaten erleiden wird [2]. Das verschärft den Angriff auf die Lebenssituation der seit jeher stark polarisierten Klassengesellschaft Großbritanniens erheblich, denn die Rechnung bezahlen wie stets die prekarisierten und überflüssig gemachten Menschen, zu denen im UK überproportional viele MigrantInnen und People of Color gehören. Das gilt auch für die Verbreitung der Pandemie, hat diese doch sozial schlechtergestellten Menschen den höchsten Zoll an schweren Erkrankungen und Todesfällen abverlangt.

So geht aus der von Public Health England herausgegebenen Studie Disparities in the Risk and Outcomes from COVID-19 [3] hervor, daß es signifikante Unterschiede in der Schwere der Pandemie sowohl sozialräumlich - in den ärmsten Teilen des Landes ist die Sterblichkeitsrate doppelt so hoch wie in den am besten gestellten Regionen - als auch ethnisch - alle nichweißen Gruppen haben bis zu doppelt so hohe Todesraten wie die weiße Bevölkerung - als auch beruflich - ArbeiterInnen in häufig prekären Dienstleistungsjobs wie BusfahrerInnen, Angestellte im Einzelhandel, Care-ArbeiterInnen und unqualifizierten Jobs am Bau und in der Fabrik haben deutlich höhere Mortalitätsraten - gibt. Die Coronapandemie trifft nicht alle Menschen gleichermaßen, wie häufig behauptet, sondern ist auch eine soziale Malaise, die die gesundheitlichen Auswirkungen kapitalistischer Klassengegensätze adäquat abbildet.

Die politischen Hintergründe dieser desaströsen Entwicklung wurden insbesondere von mehreren AutorInnen der Zeitung Byline Times untersucht. Immer wieder nimmt dabei der Chefberater von Premierminister Boris Johnson, Dominic Cummings, eine führende Rolle ein. Dieser ist vor allem aufgrund der Überschreitung der Quarantäneregeln in den Mittelpunkt öffentlicher Kritik geraten, dabei scheint sein Einfluß auf administrative Entscheidungen zum Umgang mit der Coronapandemie ungleich kritikwürdiger zu sein. So hat Peter Jukes dokumentiert [4], daß die Wirkmächtigkeit der These, mit Herdenimmunität lasse sich die Krise schnell und wirksam bewältigen, aus der transatlantischen Zusammenarbeit Cummings mit rechtslibertären Kreisen aus dem Umfeld der Trump-Regierung resultieren könnte. Nafeez Ahmed wiederum hat in einer dreiteiligen Artikelserie [5] umfassend dokumentiert, mit welchen Argumenten welche Akteure dafür gesorgt haben, daß Boris Johnson das Ergreifen wirksamer Schutzmaßnahmen über einen Punkt hinaus verzögert hat, an dem das jetzige Ausmaß der Pandemie in UK nicht mehr zu verhindern war.

In der Rückschau auf die Ereignisse der letzten drei Monate in Großbritannien wird überdeutlich, daß zu keiner Zeit die Frage an erster Stelle stand, was zu tun sei, damit die Bevölkerung die Pandemie möglichst unbeschadet übersteht. Im Mittelpunkt standen Motive des Machterhaltes und der Sicherung einer Klassenherrschaft, die im United Kingdom besonders viele Attribute neofeudaler Vorteilsnahme, rassistischer Diskriminierung und sozialchauvinistischer Verachtung aufweist. Das Land, in dem der moderne Kapitalismus seine Karriere zu einer mit anwachsender Ausbeutung und Unterdrückung einhergehenden Vergesellschaftungsform begonnen hat und in dessen Kolonialreich im 19. Jahrhundert die Erde umrundet werden konnte, ohne jemals das Territorium des British Empire zu verlassen, steht bis heute in der Tradition des ungebrochenen Insistierens auf vergleichslose nationale Größe und des besonders unter den Eliten grassierenden Glaubens an die Überlegenheit weißer zivilisatorischer Errungenschaften. Der Verlauf der Coronapandemie hat noch einmal nachdrücklich bestätigt, daß es an den Menschen selbst ist, sich jener Herren zu entledigen, die immer noch meinen, in ihren Schlössern und Palästen sicher zu sein vor einer sozialen Revolte wie derjenigen, die zur Zeit die ehemalige britische Kolonie auf der anderen Seite des Atlantiks erschüttert.


Fußnoten:

[1] https://bylinetimes.com/2020/06/05/beyond-exceptional-the-etonian-english-imperialism-at-the-heart-of-a-deadly-covid-19-crisis/

[2] https://www.theguardian.com/business/2020/jun/10/uk-economy-likely-to-suffer-worst-covid-19-damage-says-oecd

[3] https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/889195/disparities_review.pdf

[4] https://bylinetimes.com/2020/04/03/the-coronavirus-crisis-herd-immunity-has-infected-uk-policy-but-who-was-patient-zero-for-this-toxic-transatlantic-idea/

[5] https://bylinetimes.com/2020/03/23/covid-19-special-investigation-part-one-the-politicised-science-that-nudged-the-johnson-government-to-safeguard-the-economy-over-british-lives/

https://bylinetimes.com/2020/03/23/covid-19-special-investigation-part-two-government-documents-reveal-concern-for-economic-and-business-impacts-prevented-early-action/

https://bylinetimes.com/2020/03/23/covid-19-special-investigation-part-three-behavioural-scientists-told-government-to-use-herd-immunity-to-justify-business-as-usual/

17. Juni 2020


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